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Kolumbien: Bloß nicht zurück nach Caracas

Miguel Torres quält sich durch die Menge. In jeder Hand trägt der schmale 23-jährige Venezolaner eine vollgepackte Tasche, auf seinen Schultern sitzt sein anderthalbjähriger Sohn Luciano. Sie kommen aus der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Inmitten von Hunderten weiterer Landsleute schieben sie sich über die Simón-Bolívar-Brücke, raus aus Venezuela, rein nach Kolumbien. Auf der anderen Seite der Brücke: die kolumbianische Grenzstadt Cúcuta.

Es ist erst sechs Uhr morgens, die Brücke ist seit einer Stunde für Fußgänger geöffnet und brechend voll. Hier passieren jeden Tag 33.000 Menschen aus Venezuela die Grenze zu Kolumbien. Die meisten kehren am Abend wieder heim, aber rund 3.000 bleiben. Jeden Tag. So wie Torres und seine Familie.

Mit ihm unterwegs sind seine Frau, sein Vater, sein Schwager und drei Brüder, der jüngste fünf Jahre alt. Am Vorabend haben sie sich in Caracas in einen Bus gesetzt, nun sind sie hier. Den Rest ihres Weges werden sie zu Fuß gehen müssen. Ihr Geld ist alle. Der Bus sei voll mit Auswanderern gewesen, sagt Torres.

Am Übergang kontrollieren Migrationsbeamte, Zöllner und Polizisten Ausweise und Gepäck. Routiniert winken sie die Menschen durch, alles läuft in geordneten Bahnen. Nur einmal muss die Dame vom Zoll eingreifen, als zwei Männer in schweren Plastiktüten Autoersatzteile über die Brücke schleppen wollen. Die Zöllnerin schickt sie wieder zurück, aber besonders beeindruckt wirken die Männer nicht. Vermutlich werden sie ihre Ware einfach ein paar hundert Meter weiter auf einem Schmuggelpfad über die Grenze bringen.

Machtkampf mit Konzerten

Seit drei Jahren steckt Venezuela in einer schweren Wirtschaftskrise. Ebenso lange schon verlassen Venezolanerinnen und Venezolaner in Scharen ihr Land. Zu Hause, in der Hauptstadt Caracas, spitzt sich gerade ein Machtkampf zu, der auch in Cúcuta zu spüren ist. Es begann vor gut einem Monat, als sich Parlamentschef Juan Guaidó zum Interimspräsidenten erklärte und damit den sozialistischen Staatschef Nicolás Maduro offen herausforderte. Viele Staaten erkannten Guaidó an, darunter die USA und zahlreiche EU-Staaten inklusive Deutschland.

US-Präsident Donald Trump schickte Hilfsgüter für die Venezolaner auf die niederländische Überseeinsel Curaçao, nach Brasilien und nach Cúcuta. Maduro aber ließ die Straßen ins Land blockieren; in Cúcuta stehen jetzt Container mit 260 Tonnen an Lebensmitteln, zum Beispiel Reis, Linsen und Mehl, und Hygieneartikeln nutzlos herum. “Die Menschen in Caracas warten darauf”, sagt Torres. In Venezuela hungern viele, obwohl das Land die größten Erdölreserven der Welt besitzt.

An diesem Freitag nun soll ein kostenloses Open-Air-Konzert in Cúcuta den Druck auf Maduro erhöhen, die vorwiegend US-amerikanische Hilfe doch noch ins Land zu lassen. Organisiert hat es der britische Multimillionär und Impresario Richard Branson, auftreten sollen die mexikanische Rockgruppe Maná, der spanische Liedermacher Alejandro Sanz und der kolumbianische Sänger Carlos Vives. Maduro kündigte prompt ein Gegenkonzert auf der venezolanischen Seite der Grenze an. Seine Regierung versprach, in Cúcuta 20.000 Lebensmittelpakete an arme Kinder zu verteilen. Beide Seiten betreiben Propaganda.

Nicht genug zum Überleben

Als in Caracas im Januar dieses Jahres viele Menschen gegen Maduro auf die Straße gingen, war Torres mit dabei. Damals hatte er noch eine feste Arbeit. Er belud Containerschiffe und verdiente damit 20.000 Bolívares im Monat. Nicht genug, um eine Familie zu ernähren: “Davon konnte ich zwei Packungen Windeln kaufen”, sagt er.

Viele seiner Bekannten seien seit Januar verhaftet worden, sagt Torres. Maduros Tage seien gezählt, sagt er, aber er will nicht länger zu Hause auf einen möglichen Machtwechsel warten. “Es kann Jahrzehnte dauern, bis das Land wiederaufgebaut ist.”

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