/“Vice”: Biografie der Abscheu

“Vice”: Biografie der Abscheu

Um es gleich vorwegzunehmen: Christian Bale dürfte für seine Rolle als
ehemaliger US-Vizepräsident Dick Cheney am Wochenende einen Oscar erhalten, und
den hat er auch verdient. Das satirisch-zornige Biopic von Regisseur Adam McKay
bietet Bale eine Paraderolle, und er geht vollständig in ihr auf. Alle
Schauspieler in Vice sind fantastisch.
Doch bei Bale vergisst man, dass man einem
Schauspieler zuschaut. So beeindruckend ist seine Mimikry, dass es für den Film zum Problem wird: Vice
macht sich zwar ständig Gedanken über die Geschichte, die er erzählen will, scheint
sich aber nie ganz sicher zu sein, warum sie erzählt werden muss. Als Anklageschrift gerät der Film so detailreich, dass er die Vorwürfe verwässert – und die Story
gleich mit.

McKay, früher einmal Drehbuchschreiber für Saturday Night Live und danach mit Komödien mit Will Ferrell
erfolgreich, hatte 2015 mit The Big Short den
wahrscheinlich aufwendigsten Film über die globale Finanzkrise 2008 vorgelegt –
auf jeden Fall den zornigsten. Auch in Vice will er dem Publikum Tatsachen wieder ins
Bewusstsein rufen, die noch nicht lange zurückliegen und doch längst verdrängt
sind. Es ist beklemmend, wie viel von dem, was der Film beschreibt, bereits der
Normalität überantwortet, verdrängt, vergessen wurde.

Wie auch in The Big Short geht es McKay in Vice darum, zu beschreiben, wie mangelnde Wachsamkeit Ungeheuer gebiert. Der
Film will Cheneys aufhaltsamen Aufstieg “so wahr wie möglich” nacherzählen, was
in Anbetracht dessen berüchtigter Geheimniskrämerei nicht ganz einfach ist – eine
Tatsache, der der Film in seiner zerklüfteten Struktur und seiner formalen
Kühnheit Rechnung trägt. Klar, Cheneys Klassiker dürfen nicht fehlen: die Lügen
vor der UN (wo McKay einen von Tyler Perry gespielten Colin Powell und den
historischen Joschka Fischer in dieselbe Szene montiert), Abu Ghraib, die
Machenschaften seines Stabschefs Lewis “Scooter” Libby, die Affäre um die enttarnte CIA-Agentin Valerie Plame.
McKay klappert geduldig viele der unglaublicheren Anekdoten ab, von denen
jeder Zuschauer garantiert einige schon wieder vergessen hat – der Rezensent etwa hatte verdrängt, dass Cheney bei einem Jagdausflug einem Mann ins Gesicht geschossen hatte.

Das Enervierende, ja ehrlich gesagt Ermüdende an diesem Vorgehen ist, dass jedes vergessene, verdrängte Geschehnis dazu beiträgt, Cheney und Männer wie ihn zu normalisieren. Vice legt nahe, dass die fehlende Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Regierung George W. Bush Donald Trump erst möglich machte. Cheney, der sein eigentliches Element in Verwirrung, Angst und Unsicherheit und Alliierte in Antonin Scalia (Richter am Obersten Gerichtshof) oder Roger Ailes (ehemaliger Chef von Fox News) fand, konnte Amerika prägen, weil Amerika ihn ließ.

Der Film folgt Cheney von seinen frühen Jahren in Wyoming, als Aide-de-camp Donald Rumsfelds (gespielt von Steve Carrell) in den Kongress, unter dessen Fittichen ins Weiße Haus unter Richard Nixon, weiter als Abgeordneter ins Repräsentantenhaus, zu Halliburton und zurück ins Weiße Haus George W. Bushs (gespielt von Sam Rockwell). So illuster diese Stationen auch sein mögen, der Film hält sie bewusst monoton: graue oder weiße Büros, Sitzgruppen, schummrige, gediegene Restaurants, Konferenzzimmer. Die Welt außerhalb der Familie und des Büros ist für die Figuren nur von Interesse, wenn sie sie kontrollieren und manipulieren können. Schreibtische und Büros geben somit auch diesem langen und bewusst unfokussierten Film seinen Rhythmus – wie auch die wiederholten Herzinfarkte, die Cheney immer absolut lakonisch bekannt gibt. In einem anderen Film wären sie wohl die grimmigsten Pointen, hier spielen sie aber nicht mal in der Oberliga mit.  

Ein “squat ugly building” nennt Rumsfeld das Weiße Haus, und Vice zeigt es auch dementsprechend. Die süffigen Farben, die sich an den Insignien der Macht berauschenden Totalen vieler (auch gerade der kritischen) Filme über Washington D. C. fehlen in diesem Film fast vollständig. Bürokraten in tristem Ambiente fällen Entscheidungen, die viele Leben und ganze Staaten auslöschen. “Tausende werden sterben und die Welt wird sich ändern”, sagt Rumsfeld zu Cheney, während Kissinger und Nixon hinter verschlossener Tür die Bombardierung Kambodschas vorbereiten. Bales Ausdruck in dieser Szene ist fantastisch: Sein Cheney geilt sich an beidem auf – an der Macht, Leben zu vernichten, und an den armseligen Büros, in denen diese Macht sich versammelt.

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