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Anklam: Das unsichtbare Netz

Michael Galander, 49 Jahre alt, der parteilose Bürgermeister von Anklam, hat im ersten Stock des Rathauses die Flügeltüren zum Balkon geöffnet. Von hier schaut er auf das neue Zentrum der Stadt, sein Meisterwerk, Symbol dafür, dass es mit Anklam vorangeht: pastellfarbene Kaufmannshäuser, ein Backsteinbau mit hanseatischem Stufengiebel. Er lässt seinen Zeigefinger die Schaufenster der Läden, die den Platz umrahmen, entlangwandern: Apotheke, Landbäckerei, Modeladen auf der Westseite; Parfümerie, Pizzeria, Steakhaus und zwei Boutiquen an der Ostflanke. Kein Ladenlokal steht mehr leer.

Galander wirkt, als wolle er den Marktplatz umarmen, mit in sein Büro nehmen und als Miniaturversion zu den anderen Souvenirs auf den Schrank stellen. Dort reihen sich Mitbringsel von seinen Reisen aneinander, der Schiefe Turm von Pisa, das Brüsseler Atomium, Londons Big Ben. Galander kommt aus dem Emsland, er zog 1995 nach Anklam, errichtete als Tiefbau-Unternehmer erst die Kreisverkehre und baute dann als Politiker die Stadt neu auf. Bis vor ein paar Jahren standen im Zentrum graue Plattenbauten. 2010 begannen die Abrissarbeiten. Beim Wiederaufbau des Marktplatzes habe man sich Postkarten aus den Jahren vor 1945 zum Vorbild genommen, sagt Galander. Nichts hier ist tatsächlich alt. Das historische Zentrum ist eine Illusion.

Nach der Wiedervereinigung schien das Schicksal der Kleinstadt besiegelt zu sein. Anklam, hoch oben im Nordosten, dort, wo die Peene sich weitet, um fünf Kilometer weiter in einen Meeresarm der Ostsee zu fließen, schien zum Sterben verurteilt: strukturschwach, überaltert, stark schrumpfend. Drei Viertel der Abiturienten verließen ihre Heimat, sobald sie mit der Schule fertig waren. Es gab Jahre, in denen war jeder Dritte in der Stadt ohne Arbeit, mehr als irgendwo sonst im Land. 6000 Einwohner zogen seit 1990 fort. Das Einzige, was zuzunehmen schien, war die Zahl der Rechtsextremen. Wenn über Anklam berichtet wurde, dann meist als Hochburg der Neonazis.

Wen es bei Michael Galanders Amtsantritt 2002 ins Zentrum verschlug, der sah eine Stadt, die sich dem eigenen Verfall zu ergeben schien. “Die Gebäude am Hauptplatz waren in einem desolaten Zustand, Ladenlokale geschlossen oder leerstehend”, sagt er. Touristen hätten hier ratlos nach dem Weg in die Innenstadt gefragt.

Es schien, als einte Anklamer Biografien eines: das Weggehen. Otto Lilienthal wurde hier geboren, zum Flugpionier wurde er in Berlin. Der Schriftsteller Uwe Johnson verbrachte in Anklam seine Kindheit, er starb in der Grafschaft Kent. Doch verfolgt man heute am Gymnasium, wie eine zwölfte Klasse das Thema Heimat diskutiert, erfährt man, dass sich viele vorstellen können, nach dem Abitur in Anklam zu bleiben. Allein 70 bis 80 Prozent der Lehrer, so sagt es der Schulleiter, seien Rückkehrer.

Die Arbeitslosenquote hat sich mehr als halbiert. Seit 2014 ziehen mehr Menschen nach Anklam, als die Stadt verlassen. Statt über Menschen, die gehen, spricht man nun von denen, die kommen. Die Lehrerin am Gymnasium, die Altenpflegerin, die einst der Arbeit wegen nach Köln zog, der Koch, der gerade das Steakhaus am Markt eröffnet hat: Sie alle, sagt Michael Galander, hätten das Gefühl, in Anklam wieder eine Zukunft zu haben.

“Viele Menschen sind wieder stolz auf diese Stadt”

In drei Jahren soll jenseits des Marktplatzes in einer leer stehenden Kirche das Ikareum eröffnen, ein Erlebnismuseum über Lilienthals Traum vom Fliegen. Vor zwei Monaten hat der Reifenhersteller Continental ein Versuchslabor in Anklam eingerichtet. Hier soll erforscht werden, ob sich russischer Löwenzahn als Alternative zu konventionellem Kautschuk eignet. Zukunft, geschaffen aus den Wurzeln der Pusteblume. Kann es ein schöneres Bild für den Aufschwung geben?

“Ich nehme als Bürgermeister sehr deutlich wahr, dass viele Menschen wieder stolz auf diese Stadt sind”, sagt Michael Galander beim ersten Besuch der Reporter im November. Menschen, die sich noch vor Jahren geschämt hätten, aus einer “braunen Hochburg” zu kommen. Je besser es der Stadt und den Bürgern gehe, desto stärker wendeten sie sich vom Rechtsextremismus und von den anderen Problemen ab, die Anklam gehabt habe.

Wer Galander begleitet, vom Ufer der Peene bis hinunter zum Bahnhof, der begegnet auch zunächst keinen offensichtlichen Spuren jener Zeit Ende der Neunzigerjahre, als die NPD und Neonazis mit NSU-Bezug durch die Straßen marschierten. Längst sind die Plakate verschwunden, auf denen der Kameradschaftsbund Anklam mit Sprüchen wie “Opa war in Ordnung” rechte Propaganda verbreitete. Niemand hat Hass-Slogans an die Hausfassaden gesprüht. Im Stadtkern haben sich gleich drei Büros gegen Rechtsextremismus angesiedelt: der Demokratiebahnhof, der Demokratieladen und das Regionalzentrum für demokratische Kultur.

Ist es so, wie es nach den ersten Begegnungen scheint: Hat der Aufschwung die extremen Rechten fortgespült?

Beim Stadtrundgang kommt Bürgermeister Galander auf der Hauptstraße an einem Pflegedienst vorbei. Eine Zukunftsbranche in Anklam, das Durchschnittsalter liegt bei 53,2 Jahren. Das ist deutlich mehr als der Bundesschnitt von 47. Michael Galander lacht wie ertappt, als die Frage aufkommt, wem der Betrieb gehöre. “Der Pflegedienst ist nicht ganz unumstritten”, sagt er dann. Denn er stehe in Verbindung zu einem stadtbekannten Rechtsextremen.

In der Sozialkundestunde im Gymnasium waren sich Lehrer und Schüler einig gewesen: Anklam sei überschaubar, verschlafen, nicht sonderlich vielfältig. Aber rechts? Das sei ein böses Vorurteil. Dann aber hatte ein Junge aufgeblickt: “Ich kann das widerlegen”, sagte er und erzählte, dass er schon mehrfach gesehen habe, wie Rechte Bierflaschen auf Menschen warfen, die sie für Migranten hielten. Zwar wählten bei der Bundestagswahl 2017 nur noch vier Prozent der Anklamer die NPD, elf Jahre zuvor hatte die Partei es auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs auf 16 Prozent gebracht. Nun aber wählten 23 Prozent die weniger radikale AfD – in einigen Dörfern der Region waren es sogar mehr als 40 Prozent. Im Gemeinderat ist die NPD seit 2004 vertreten, bei der letzten Kommunalwahl kam sie auf neun Prozent. Wer genau hinsieht, findet im Zentrum von Anklam “Heil Hansa!”-Graffiti, der Ruf, mit dem rechte Hansa-Rostock-Fans im Stadion auffallen. Das Jugendzentrum Demokratiebahnhof wurde 2017 mit einem Molotowcocktail angegriffen, auch das Auto des Leiters brannte.

An einem Ende der Hauptstraße, am westlichen Rand der Innenstadt im Erdgeschoss eines sanierten Altbaus, gibt es ein Geschäft, das sich New Dawn nennt. Von außen wirkt der Laden mit seinen blickdicht verhangenen Schaufenstern unscheinbar. Der Verkaufsraum ist mit rechtsextremen Symbolen und Werbung für Szenebands dekoriert. Das New Dawn ist ein extrem rechter Traditionsbetrieb. Trotzdem gratulierte die Industrie- und Handelskammer 2013 dem Inhaber Markus Thielke zum 15. Firmenjubiläum.

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