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Ungarn: Gebär-Mütter

Mit durchschnittlich 1,45 Kindern pro Frau hat Ungarn derzeit eine der
niedrigsten Geburtenraten in der Europäischen Union. Dies führt zu einer schrumpfenden
Bevölkerung, was wiederum jeden Staat, jede Gesellschaft und jede Wirtschaft vor riesige
Herausforderungen stellen würde. Gut, dass Ministerpräsident Viktor Orbán nun in einer Rede an
seine Nation einen “Aktionsplan für Familienschutz” angekündigt hat. Er soll die Ungarinnen
dazu bringen, für mehr Nachwuchs zu sorgen
.

Jeder Ungarin unter 40 Jahren soll demnach bei ihrer ersten Eheschließung ein staatlicher
Kredit von zehn Millionen Forint, umgerechnet rund 31.500 Euro, gewährt werden. Mit dem Geld
kann die frisch vermählte Braut tun, was sie will. Bekommt sie innerhalb ihrer Ehe ein Kind,
muss sie drei Jahre lang keinen einzigen Forint zurückzahlen. Beim zweiten Kind wird ihr ein
Drittel, beim dritten Kind sogar der komplette Kredit erlassen. Bekommt sie ein viertes oder
mehr Kinder, wird sie zusätzlich bis an ihr Lebensende von der Einkommensteuer befreit, und
der Staat greift ihrer Familie obendrein bei der Anschaffung eines Eigenheims und “eines Autos
mit mindestens sieben Sitzen”, so steht es im Gesetzentwurf, finanziell unter die Arme.

Nun fördern auch andere EU-Staaten das Kinderzeugen mit reichlich Steuergeldern. In
Deutschland gibt es das Kindergeld, in Frankreich eine Familienleistung. In beiden Ländern
steigt die Unterstützung, je mehr Kinder in einer Familie leben. Von dieser Förderung
profitieren Kinder von Alleinerziehenden oder unverheirateten Paaren ebenso wie aus
Patchwork-Familien und adoptierte Kinder. In Ungarn nicht. Dort soll der Aktionsplan nur
“intakten Familien”, wie es aus der konservativen Fidesz-Partei heißt, zugutekommen.

Über diese Diskriminierung hinaus findet sich auch die rassistische Weltsicht Orbáns im
Gesetzentwurf deutlich wieder. In seiner Rede sagte der Ministerpräsident, dass seine Antwort
auf den Bevölkerungsschwund in Ungarn nicht die Einwanderung, sondern “ungarische Babys”
seien. Er wolle keine “gemischte Bevölkerung” wie zum Beispiel in Deutschland. “Europa hat den
Punkt erreicht, an dem wir unsere ungarische Identität, unser christliches Erbe verteidigen
müssen”, sagte er. Die Waffe seiner Wahl: die ungarische Gebärmutter. Von europäischen
Rechtspopulisten kam prompt Applaus. Der AfD-Politiker Uwe Junge zitierte zum Beispiel Orbáns
Plan und twitterte: “Wenn unsere Frauen nicht bald deutlich mehr Kinder bekommen, wird das
deutsche Volk bald Geschichte sein! Familienförderung ist eine Überlebensfrage – ob es Euch
gefällt oder nicht!”

Nach Orbáns Rede tauchten aber auch kritische Kommentare auf. Ungarische Satiriker machten
sich an die Arbeit: Steuerfreiheit ist das beste Argument für ein Kind, Liebe wird sowieso
überbewertet. Bebildert wird diese Kritik zum Beispiel mit der Heldin aus dem Roman
Der
Report der Magd

der kanadischen Autorin Margaret Atwood. Tausende Frauen in blutroten
Roben werden in dieser dystopischen Erzählung von einer christlich-fundamentalistischen
Diktatur als Gebärmaschinen missbraucht. Zumindest passt die Orbánsche Rhetorik zu dieser
Horrorgeschichte: Die anstehenden Europawahlen bezeichnete Orbán bei der Präsentation seines
Plans als “finale Schlacht” gegen “Brüssel”, gegen den jüdisch-ungarischen US-Milliardär
George Soros, der laut Orbán angeblich die ganze Welt kontrolliere, gegen Roma, Geflüchtete
und Oppositionelle, wie er seit Jahren in unzähligen Reden, Interviews und Gesetzen
bekräftigt.

Dabei scheint es so, dass genau diese Identitätspolitik zur niedrigen Geburtenrate beiträgt:
Deutlich mehr als eine halbe Million Ungarn und Ungarinnen (bei einer Bevölkerungszahl von 9,7
Millionen) leben mittlerweile in Westeuropa. Ein Großteil ist während der Regierungszeit von
Viktor Orbán gen Westen ausgewandert, jedes Jahr kommen Zehntausende dazu. Darunter befinden
sich viele gut ausgebildete Frauen im besten gebärfähigen Alter, die ihre Regierung kritisch
sehen und nicht mehr in Ungarn leben wollen. Eins ist klar: Steuerfreiheit auf ihre
Reproduktionsleistung wird diese Ungarinnen nicht zur Bereitstellung von mehr Babys für Orbáns
Abendlandfantasie animieren.

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