/“Tatort” Wiesbaden: Oder Hans-Dietrich Genscher?

“Tatort” Wiesbaden: Oder Hans-Dietrich Genscher?

Murot und das Murmeltier
(HR-Redaktion: Jörg Himstedt, Liane Jessen) heißt die neue Tatort-Folge. Und während klar ist, bei wem es sich um Murot
handelt – den von Ulrich Tukur gespielten LKA-Ermittler, der beim
ARD-Sonntagabendkrimi für die speziellen Filme zuständig ist –, sucht man das
Murmeltier hier vergebens. Es stammt aus einem anderen Film, dessen
Konstruktion so einzigartig war, dass sein deutscher Titel sprichwörtlich
geworden ist – und für diesen Tatort nun die Erklärung für die
ungewöhnliche Erzählstruktur vorweg liefern kann.


"Tatort" Wiesbaden: Matthias Dell schreibt seit 2010 wöchentlich über "Tatort" und "Polizeiruf 110". Auf ZEIT ONLINE seit 2016 in der Kolumne "Der Obduktionsbericht".

Matthias Dell schreibt seit 2010 wöchentlich über “Tatort” und “Polizeiruf 110”. Auf ZEIT ONLINE seit 2016 in der Kolumne “Der Obduktionsbericht”.
© Daniel Seiffert

Und täglich grüßt das Murmeltier meint im
hiesigen Sprachgebrauch die Wiederkehr des Immergleichen, weil der von Bill Murray dargestellte Wetteransager in Harold Ramis’ Film von 1993 (im
amerikanischen Original Groundhog Day) den titelgebenden Murmeltiertag in einem Provinzkaff wieder und wieder erlebt. Als
einziger.

In Murot und das Murmeltier sind es zwei
Personen, die in der Zeitschleife festhängen. Für den Kommissar und den Täter,
den Banküberfaller Stefan Gieseking (Christian Ehrich), fängt immer wieder der
gleiche Tag an, solange jemand beim Versuch, die Geiselnahme in der Filiale zu
beenden, getötet wird.

Dietrich Brüggemann (Buch, Regie und Musik) variiert mit
seinem zweiten Tatort nach Stau also eine etablierte Form, was die Originalität des Films etwas schmälert. Murot und das Murmeltier ist aber mehr als ein epigonales Remake. Das Original
wird transponiert in ein spezifisch deutsches Format – den Fernsehkrimi.

Von dem gibt es auch deshalb so viele, weil der Tatort so erfolgreich ist. Und es ist nur naheliegend, dass der
Metakrimi über die Krimischwemme bei der Murot-Figur angesiedelt wird – Ulrich Tukurs Spezialistentum verdankt sich allein dem Umstand, dass alle anderen
ARD-Sonntagabendkrimis zumeist wöchentlich vor sich hin routinieren, dieser
neue Schauplatz also von Anfang an als Abwechslung dazu gedacht wurde.

Insofern kommt der Wiesbadener Tatort, der
diesmal in Frankfurt gedreht wurde, mit Murot und das Murmeltier zu
sich selbst. Die Überdrüssigkeit an den steten Wiederholungen wird dabei schon
im ersten Durchlauf markiert, wenn Murot, noch ehe er sich ein Bild der Lage
gemacht hat, seiner Mitarbeiterin Magda Wächter (Barbara Philipp) empfiehlt,
einen Fluchtwagen und Geld in kleinen Scheinen zu beschaffen – was sollten
Geiselnehmer in einer Bank sonst wollen?

Die Frage, was Geiselnehmer Gieseking tatsächlich will, ist
die eigentlich spannende – sie trägt den Film durch die zwölf Wiederholungen
hindurch. Stellenweise wirkt Murot und das Murmeltier wie ein
Videospiel, bei dem der Tod der Spielfigur nur das Scheitern am nächsten Level definiert:
Murot muss bei seinen verschiedenen Anläufen nebenher immer etwas Neues herausfinden über Gieseking und seine Kumpanin Nadja Eschenbach (Nadine Dubois), um so die Chance zu erhöhen, den Fall tatsächlich zu lösen.

Was hier bedeutet: einen friedlichen Ausweg zu finden, in
dem die eigentliche Motivation des sich selbst unklaren Täters verstanden wird.
Der Sinnlosigkeit des Gieseking-Lebens muss wieder Sinn verschafft werden – was
in Murot und das Murmeltier allerdings auch nur bedeutet, dass er
ohne Gegenwehr und gefährdete Geiseln verhaftet werden kann.

Von solchen selbstreferenziellen Effekten lebt dieser Krimi,
der im ersten Moment keiner sein will, am Ende aber doch nur einer ist. So
gestattet ironischerweise die permanente Wiederholung des Immergleichen dem
Film und seinem Hauptdarsteller größtmögliche Freiheiten. Tukur kann spielen
wie noch nie, weil er die Eindimensionalität von Fragen, Verhören, Begrüßungen
mit jedem Durchlauf anders anlegen kann (und außerdem die Verzweiflung über
sein Gefangensein in der Zeit darstellen muss). So wirkt das komplett banale
Gespräch mit einem Rettungssanitäter (Sascha Nathan) über Kinder, Arbeit und
Frühstücksbrote mit einem Mal aufregend.

Und so ist vor allem die frühe Flucht aus dem Korsett der
Wiederholung eine schöne Sequenz in diesem Film: Murot hat die Struktur des
Films durchschaut und fährt statt zum Einsatzort aufs Land zum Tretbootfahren.
Was macht ein Film, der nichts machen muss, weil eh alles wie immer ist? Einen
Ausflug, bei dem Murot einer Landgasthauswirtin (die große Tina Pfurr) eine Torte ins
Gesicht wirft. Ein Witz aus dem Stummfilm, eine der frühesten Idee davon, was
man vor einer Kamera machen kann, um Leute zu unterhalten.

Dass Murot und das Murmeltier gerade in diesen Passagen
nicht schwächelt, bedeutet die Souveränität von Brüggemanns kultureller
Aneignung eines fremden Stoffes. Und womöglich gelingt das nächste
Murot-Abenteuer ähnlich furios, ohne dass es des zentralen Einfalls von
woanders her bedarf. Dass es am Ende doch nur wieder einen weiteren
Wiesbaden-Tatort geben wird, ist die eigentlich bittere Pointe des
Films.

 

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