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“Born in Evin”: Politische Tränen

Lesen Sie hier das türkische Original. Der Text ist für die deutsche Version redaktionell leicht bearbeitet worden.

Wenn in der Türkei der Neunzigerjahre mal wieder ein Intellektueller
ermordet wurde, und das geschah damals nicht selten, protestierten Massen auf den Straßen, die
riefen: “Die Türkei wird nicht Iran!” Der Iran stand als abschreckendes Beispiel für eine
Gesellschaft, die der politische Islam kapern konnte. Eine ganze Generation hat er durch Mord
vernichtet oder ins Exil vertrieben.

Dieser iranischen Generation gehören auch die Eltern von Maryam Zaree an. Ihre Mutter war politische Gefangene, die während ihrer Haft gefoltert wurde. Sie brachte Maryam in Chomeinis Evin-Gefängnis zur Welt, ging mit ihr nach Deutschland und sprach nie wieder über die entsetzliche Zeit – bis Maryam eines Tages anfing, Fragen zu stellen. Mit diesen Fragen im Hinterkopf hat sie nun einen Dokumentarfilm gedreht.

Born in Evin feierte jetzt Premiere auf der Berlinale und sucht, passend zum 40. Jahrestag der iranischen Revolution, Antworten auf Maryams Fragen: “Was geschah damals? Warum wurde nie darüber geredet?” Maryam zeigt, wie schwierig es ist, versiegelte Lippen zu öffnen. Sie findet Antworten wie: Sie schwiegen, “weil sie besiegt waren. Und überlebt hatten, während ihre Freunde tot waren.” Die Wahrheit, die Maryam am Ende ihres Films findet, lässt sie weinen. Bei der Premiere fragte ein Zuschauer die junge Regisseurin nach diesen Tränen. Eigentlich habe sie sie herausschneiden wollen, sagte sie, dann aber sei ihr klar geworden, dass diese Tränen zur Geschichte gehören. Es seien politische Tränen.

Als ich den Film sah, musste ich an die damalige Parole denken: “Die Türkei wird nicht Iran!” Die Türkei, von der die Anhänger der Parole träumten, sollte ganz im Westen vom Osten, ganz im Osten vom Westen eine Bastion des Laizismus sein. Und nicht in die Falle des politischen Islams tappen. Diese Türkei, die “nicht Iran werden” sollte, gerät mit Verboten moderner Lebensweise und religiös begründeten Regeln rasant unter den Einfluss ebendieser düsteren Wolke.

Heute sind Erdoğans Gefängnisse voll mit Linken und Liberalen, die ihn einst gegen den Militarismus unterstützt hatten. Ihre Kinder kommen hinter Gittern zur Welt. Über 600 Babys sind derzeit mit ihren Müttern inhaftiert.

Welche Antwort wird wohl ein im Gefängnis von Silivri geborenes Kind erhalten, wenn es in 40 Jahren die Exilanten fragt: “Was geschah damals? Warum habt ihr geschwiegen?”


Aus dem Türkischen von
Sabine Adatepe

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