/Künstliche Befruchtung: Tief in den Genen

Künstliche Befruchtung: Tief in den Genen

Sie ist spät dran. Irgendwas frisst immer Zeit, der Job, die Kinder, das
Kuddelmuddel des Alltags. Es dämmert schon, flackernd springen die Laternen an, als die Frau
im Berliner Regierungsviertel vom Fahrrad steigt, das Schloss einrasten lässt und ihren
Rucksack schultert. Sie eilt zum Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, einem Büro-Betonriegel, der sich
neben dem Reichstag über die Spree spannt. Schon von draußen kann sie die anderen sehen:
Professoren, Chefärzte, Verbandsführer, im Licht hinter den Fenstern wie Spielzeugfiguren zu
Gesprächsgruppen arrangiert.

Der Aufzug trägt Christina Motejl hinauf in ein Foyer im ersten Stock. Begrüßungsgeplauder unter Anzugträgern. Ein Gong, der alle in den Sitzungssaal ruft. Routiniert wie immer läuft auch an diesem Winterabend die Gesetzgebungsmaschine in der deutschen Hauptstadt. Sachverständige sollen sich zur “Bundestagsdrucksache 19/5548” äußern, einem Gesetzentwurf der Linkspartei, eingebracht unter dem Titel:
Medizinische Kinderwunschbehandlungen umfassend ermöglichen.
Eine ganz normale Expertenanhörung. Einer von vielen Schritten, nach denen ein Entwurf vielleicht Gesetz wird.

Die geladenen Fachleute und Funktionäre stecken sich Namensschilder ans Revers: die Bevollmächtigte der Bundesärztekammer, der Vertreter des Elternvereins Wunschkind, der Vorsitzende des Bundesverbandes Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands. An einem riesigen runden Tisch nehmen sie ihre Plätze ein, ziehen Akten aus den Taschen, richten Mikrofone. Christina Motejl, 38, rotbraunes Haar, heller Teint, setzt sich zwischen zwei ältere Herren. Keine Approbation und keine Promotion hat sie hierhergeführt, sondern der Umstand, dass vor fast vier Jahrzehnten eine Eizelle ihrer Mutter mit der Samenzelle eines Fremden verschmolz.

Ihrem Schild zufolge vertritt Christina Motejl im Rund der Experten einen Verein mit dem Namen Spenderkinder. Was nirgends steht und niemand im Saal weiß: Auf der jahrelangen Suche nach ihrem Vater hat Christina Motejl etwas zutiefst Verstörendes entdeckt.

Wenn es um den Beginn seiner Biografie geht, muss jedes Kind den Überlieferungen der Älteren vertrauen. Ihren Erzählungen, Fotos, Dokumenten.

Da ist also eine Geburtsanzeige:

Wir freuen uns über die Geburt unserer Tochter Christina Dorothee. Mai 1980, Duisburg

Da sind Zahlen zu Gewicht und Größe: 4050 Gramm, 56 Zentimeter.

Da ist ein Klinik-Armband in Weiß.

Da sind Fuß- und Handabdrücke in Blau.

Da sind Notizen über viele erste Male: “Köpfchen hochgehalten im Alter von vier Wochen – erste Breimahlzeit vom Löffel: 15. Juli – nach einem Gegenstand gegriffen: 20. Juli – erster Zahn: 4. November – gerobbt: 5. November – gesessen: 21. Januar – erster Geburtstag, Geschenke: Bobbycar, Kleidchen, Planschbecken”.

Da sind Versuche, Wörter vor dem Verhallen zu retten: “Name für die Mutter:
Mama.
Name für den Vater:
Papa.”

So steht es im Babybuch bei der Mutter zu Hause, erste von vielen Quellen zu einer verworrenen Geschichte. Schnell setzen eigene Erinnerungen des Kindes ein. Die früheste: Venedig, Tauben auf dem Markusplatz. Dann der Vater, der dem Kind das Radfahren beibringt. Mehrere Umzüge. Mit sechs ein fremdes Wort im Radio, Tschernobyl. Sandkastenverbot, zum Essen keine Pilze mehr. Grundschule, Klavierunterricht, im Kino
Bernard und Bianca,
im Dunkel neben dem Mädchen die Mutter. Die Ehe der Eltern fühlt sich für die Tochter manchmal hakelig an, gelegentlich empfindet sie vage Traurigkeit: Es gibt keine Geschwister. Auf Familienfesten ist sie das einzige Kind. Dann die Pubertät; wenn Streit, meist mit dem Vater. Gemeinschaftliches Glück aber auch oft mit ihm: Radtouren, Schwimmen im Baggersee. Ein gutes Abitur, Auszug, Wohngemeinschaft. Studium in Bonn. Politikwissenschaften, später Jura als Hauptfach.

Als das Leben der Tochter Geschwindigkeit aufnimmt, sie sich von zu Hause entfernt, trennen sich – in den Kulissen ihrer Kindheit – die Eltern.

Christina Motejl ist 26 Jahre alt und denkt, die Geschichte ihrer Jugend sei geschrieben, glaubt, sich selbst zu kennen, da kommt sie mit ihrem Freund aus einem Urlaub in Schweden zurück. Ein Tag im Juli 2006, Sommer, Deutschland berauscht sich an seinem Fußballmärchen. Am Flughafen wartet die Mutter. Sie nimmt die Tochter beiseite und sagt, sie müsse ihr etwas mitteilen. “Etwas Wichtiges, nichts Schlimmes.”

“Okay, schieß los”, habe sie geantwortet, sagt Christina Motejl heute.

Aber die Mutter bittet sie, am nächsten Tag bei ihr vorbeizukommen.

Neurowissenschaftler sprechen von “Blitzlicht-Erinnerung”, wenn das menschliche Hirn in Extremsituationen nicht nur Wesentliches speichert, sondern auch lauter Nebensächlichkeiten. Christina Motejl hat nie vergessen, dass ihre Mutter am Tag nach der Rückkehr aus Schweden Obstsalat gemacht hatte. Und sie ist sich bis heute sicher, dass die Blaubeeren darin schon überreif schmeckten. Als sie damals in die Wohnung kommt, ist auch der Vater da. Das irritiert sie. Noch mehr, dass er sich einen Schnaps eingießt.

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