/Singing!: Lieber öfter mal die Klappe halten

Singing!: Lieber öfter mal die Klappe halten

An der Garderobe zeigen sich die
ersten Allüren. 1,50 Euro sollen wir pro Kleidungsstück zahlen. Entschuldigung? Wissen die
nicht, dass wir hier die Stars sind? Wir: die 1.056 Laiensänger, die heute
Abend in der Elbphilharmonie vor ebenso vielen Zuhörern auftreten. Versammelt
hat uns der NDR Chor, der nun schon zum achten Mal sein Projekt Singing!
veranstaltet, bislang im Michel, am Sonnabend zum ersten Mal in Hamburgs neuem
Kulturwahrzeichen.

Die meisten von uns singen regelmäßig
in Chören, deren Qualität von bühnentauglich bis wenigstens unterhaltsam
reicht. Der Damenchor, in dem ich dilettiere, tritt ebenfalls öffentlich auf: einmal pro Jahr, vor einem Publikum aus Verwandten, Freunden oder anderweitig von
uns abhängigen Personen, die wir vor dem ersten Ton sicherheitshalber unter
Alkohol setzen. Jemanden wie mich also im unbarmherzigsten Konzertsaal
Deutschlands auftreten lassen, an dem vor Kurzem sogar Startenor Jonas Kaufmann – angeblich – gescheitert ist? Was soll da schon schiefgehen?

Im Großen Saal der Elbphilharmonie teilen sich Bässe und Tenöre den Zuschauerraum, rechts oben singen die
Altstimmen, links oben sitzen wir Soprane. Meine Nachbarin zur Rechten ist gemeinsam
mit ihrem Mann aus der Nähe von Ulm angereist und haust seit der ersten Probe bei
ihrer Tochter. Diese Probe war vor zwei Wochen. Als Wiedergutmachung führen
die Eltern den Hund der Tochter regelmäßig Gassi.

Links von mir sitzt Marion, die im vergangenen August ihrem Mann aufgetragen hat, bereits zehn Minuten vor
dem Verkaufsstart für Singing! am Computer zu sitzen, um ihr eine Karte zu ergattern. Denn die Tickets
waren mindestens so begehrt wie normale Elbphilharmoniekarten. 4.000
Menschen wollten mitsingen, ebenso viele (Tapfere) wenigstens zuhören. Die
Frauenstimmen waren sofort ausverkauft, die Männer hatten etwas länger
Zeit. Was allerdings dazu führte, dass sich manche Alt-Sängerinnen als
Tenöre ausgaben, um doch noch zum Zug zu kommen. Als ob ein tausendköpfiger Chor nicht
ohnehin schon schwierig genug zu organisieren wäre.

Sitznachbarin Marion wird zu meiner stimmlichen Stütze.
Sie hat zusätzlich zu den Proben mit ihren Chorkolleginnen geübt und trifft jeden Ton, und
das sogar zum richtigen Zeitpunkt. Wenn Marion Luft holt, hole auch ich Luft. Wenn
sie sich an der Nase kratzt, mache ich das auch, sicherheitshalber.

Selbst heimliches Mitzählen hilft hier nicht mehr

Einen falschen Einsatz, mit
Inbrunst und Selbstüberschätzung mitten hinein in eine Viertelpause
geschmettert, könnte allerdings auch Marion nicht verhindern. Weshalb es beim Chorsingen nicht nur darauf ankommt, den exakt richtigen Ton zu erwischen, sondern im entscheidenden
Moment die Klappe zu halten. 

Denn das von Klaas Stok, dem
neuen Chefdirigenten des NDR Chores, zusammengestellte Programm hat nichts mit einem harmlosen Hoch auf dem gelben Wagen
zu tun. Wir 1.056 Stars bezeichnen es einstimmig als “anspruchsvoll”. Sowohl Benjamin Britten als auch der Ungar Zoltán Kodály jagen ihre Sopranstimmen gern in Höhen,
bei denen Hunde langsam hellhörig werden. Edward Elgar hält seine Sänger rhythmisch
so in Bewegung, dass selbst heimliches Mitzählen nicht mehr hilft. Und dem
lettischen Komponisten Pēteris Vasks hat noch niemand gesagt, dass auch
Chorsänger gern hin und wieder atmen würden.

Zur Sicherheit dürfen der NDR Chor
sowie Studierende der Hamburger Musikhochschule mitsingen. Sie übernehmen einige
der schwierigeren Partien, was unser Ego dann allerdings doch ein wenig
ankratzt. Dreigestrichenes C? Wo, bitte, soll da das Problem sein? (Außer ein
paar gesprungenen Fensterscheiben.)

Als Klaas Stok in der Elbphilharmonie endlich den ersten Einsatz
gibt und die Männerstimmen Brittens Te
Deum
eröffnen, sind wir alle beeindruckt: Verdammt, klingen wir gut! Fast zu
gut. Die Altistinnen vom Rang gegenüber hören wir Soprane, als würden sie neben
uns sitzen.

Am Ende erklatschen wir uns unsere Zugabe selbst

“Familiär” nennt meine Soprankollegin
Sabina diese Akustik. Sie hat Vergleichswerte, schließlich fährt sie seit zehn
Jahren von einem Mitsing-Event zum nächsten. Paris, Riga, Salzburg, Wien – überall
hat sie schon gesungen. In Leipzig ist sie regelmäßig, als nächste Station steht Halle
auf dem Programm: Georg Friedrich Händels Messiah.
“Den machen die dort jedes Jahr.” Um in der Elbphilharmonie zu singen, hat sie
sich extra Urlaub genommen und ist aus Freiburg angereist.

Sabina hat sich als eine der wenigen in Schale geworfen: langes schwarzes Abendkleid. Die Frau ist der Profi
unter uns Laien. Bevor sie so richtig loslegt, tritt sie erst einen Schritt zurück. Das hat sie mit der Sängerin vor ihr so ausgemacht, aus
Rücksichtnahme. “Ich hab halt das Volumen”, sagt sie schulterzuckend.
Zurückhaltung? Kommt für sie nicht infrage: “Zum Mundhalten bin ich nicht
hergekommen.”

Sabina gehört zu einem kleinen
Kreis an Hardcore-Mitsängern. Mittlerweile kennt man einander und hilft sich
gegenseitig beim Ticketsichern. Denn Singen kann süchtig machen. Falls ich es
noch nicht erwähnt habe: Wir klingen wirklich richtig gut. Britten und Elgar
legen wir bei der Aufführung nahezu verletzungsfrei hin. Nach dem wunderschönen
Geistlichen Lied von Johannes Brahms
vergleichen Marion und ich die Gänsehaut auf unseren Armen. Josef Gabriel Rheinbergers Confitebor könnten
wir beim nächsten Mal von mir aus weglassen, dafür ist Vasks sphärisches Dona nobis pacem mein persönlicher Höhepunkt
des Abends. (Nachzuhören ist das Konzert mindestens noch einen Monat lang auf
der Website des NDR
.) 

Nicht nur die Zuschauer sind zufrieden
mit uns, auch Maria Oehmichen vom NDR Chor, die Singing! organisiert, ist es.
Wir seien besser vorbereitet gewesen und hätten besser geklungen als unsere
Vorgänger der bisherigen sieben Konzerte, wird sie am nächsten Tag sagen.

Das finden wir auch. Am Ende sind
wir von unserem Auftritt so begeistert, dass wir uns selbst eine Zugabe
erklatschen.

Dies ist ein Artikel aus dem Hamburg-Ressort der ZEIT. Hier finden Sie weitere News aus und über Hamburg.

Hits: 35