/Care-Arbeit: “Wer hat eigentlich verdient, gut zu leben?”

Care-Arbeit: “Wer hat eigentlich verdient, gut zu leben?”

Kinder schreien, in der Spüle türmen sich Teller, und auch wenn man 40 Grad Fieber hat, bringt niemand ein Glas Wasser. Eine Gesellschaft, in der sich keiner um andere kümmert, würde nicht funktionieren. Unbezahlte Fürsorgearbeiten zu Hause oder in der Familie – auch Care-Arbeit genannt – verrichten zum großen Teil Frauen. Sie leisten 52,4 Prozent mehr unbezahlte Care-Tätigkeiten als Männer – also täglich eine Stunde und 27 Minuten mehr. Das steht in dem letzten “Gleichstellungsbericht” der Bundesregierung. Für die Politik und die Wirtschaft bleibt diese Arbeit aber oft unsichtbar. Ina Praetorius setzt sich mit ihrem Verein Wirtschaft ist Care dafür ein, dass sich dies ändert.

ZEIT ONLINE: Frau Praetorius, Sie fordern unter anderem, dass volkswirtschaftliche Berechnungen nicht nur Waren und Dienstleistungen miteinbeziehen, sondern auch unbezahlte Care-Arbeit wie Kindererziehung oder Einkaufen für die Familie. Viele würden das als Privatsache sehen.

Ina Praetorius: Ob ich Kinder in die Welt setze oder wie ich meiner Familie helfe, ist zwar eine persönliche Entscheidung. Aber als Gesellschaft sind wir davon abhängig, dass Menschen füreinander sorgen und es Nachwuchs gibt. Wir alle sind auf Care-Arbeit angewiesen: Als Kinder würden wir ohne die schlaflosen Nächte unserer Eltern nicht überleben. Die meisten Erwachsenen brauchen nahe Menschen, die ihnen ein gutes Wort zusprechen. Und die wenigsten von uns lagern die gesamte Hausarbeit an Dienstleister aus: Kochen, Putzen, Sorgenanhören – das alles ist Arbeit, auch wenn sie nicht vergütet wird. In allen Ländern der Welt wird mehr unbezahlt als bezahlt gearbeitet – in Deutschland etwa ein Drittel mehr an Stunden. Herkömmliche Wirtschaft tut aber so, als kämen Menschen als Erwachsene auf
die Welt, die von ihrem ersten bis zum letzten Tag an Geld verdienen und
ausgeben – und nie eine selbst gekochte Mahlzeit oder eine Umarmung
brauchen.

Care-Arbeit: Ina Praetorius, geboren 1956, ist Theologin und Ethikerin. Seit vielen Jahren fordert sie einen neuen gesellschaftlichen Ansatz: Jede Arbeit, die der Gesellschaft nützt, muss anerkannt werden – egal ob sie bezahlt wird oder nicht. 2015 gründete sie in der Schweiz den Verein Wirtschaft ist Care.

Ina Praetorius, geboren 1956, ist Theologin und Ethikerin. Seit vielen Jahren fordert sie einen neuen gesellschaftlichen Ansatz: Jede Arbeit, die der Gesellschaft nützt, muss anerkannt werden – egal ob sie bezahlt wird oder nicht. 2015 gründete sie in der Schweiz den Verein Wirtschaft ist Care.
© Katja Nideröst

ZEIT ONLINE: Das Statistische Bundesamt rechnete 2013 aus: Würde man die Zeit, die Menschen in Deutschland zum Beispiel mit Kochen oder Kinderhüten verbringen, mit dem Stundenlohn einer Haushaltshilfe vergüten, dann wäre diese Arbeit hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung eine Billion Euro wert.

Praetorius: Berechnungen, die unbezahlte Arbeit fiktiv mit dem Haushälterinnenlohn ansetzen, sind zu niedrig. Die Menschen putzen und kochen ja nicht nur zu Hause, sondern machen zum Beispiel auch die Arbeit eines Chauffeurs oder einer Lehrerin, wenn sie ihre Kinder zur Schule bringen oder Hausaufgaben mit ihnen machen. Es gibt auch Ansätze, die damit rechnen, was für ein Lohn jemandem entgeht, der statt im Büro im Haushalt arbeitet. Eine hochqualifizierte Anwältin, die bei den Kindern bleibt, verzichtet schließlich auf das Gehalt, das sie in der Kanzlei verdienen würde. 

ZEIT ONLINE: Warum sollte eine Anwältin mehr verdienen, wenn sie kocht, als eine Postbotin?

Praetorius: Das sind alles nur fiktive Ansätze. Uns geht es nicht darum, dass jede und jeder fürs Spülen und Trösten bezahlt wird. Das wäre praktisch kaum machbar. Aber wir wollen, dass mehr Menschen die Dimensionen der Care-Arbeit verstehen. Ich treffe immer wieder Frauen, die sagen: Ich mache nichts, ich bin nur Hausfrau. Aber sie liegen ja nicht auf dem Sofa, sondern kümmern sich um emotionale und körperliche Bedürfnisse anderer Menschen. Und solange diese Frauen selbst das Gefühl haben, sie würden keine echte Arbeit verrichten, kämpfen sie auch nicht dafür, dass ihre Arbeit gesellschaftlich wertgeschätzt wird.

ZEIT ONLINE: Ihre Beispiele beziehen sich oft auf Frauen. Ist Care-Arbeit ein Frauenthema?

Praetorius: Nein, es ist eine Frage des Menschenbildes: Welche Arbeit ist eigentlich wichtig? Mich stört es, dass wir momentan einen Finanzberater oder einen Waffenproduzenten besser honorieren als einen Menschen, der tatsächlich einen Wert für die Gesellschaft erzeugt, also zum Beispiel gesunde Kinder großzieht oder alte Leute versorgt. Ein Frauenthema ist Care-Arbeit nur deshalb, weil sie als weiblich gilt – und Frauen nach wie vor häufiger und mehr Care-Arbeit verrichten als Männer.

ZEIT ONLINE: Frauen leisten anderthalbmal mehr unbezahlte Arbeit, fand das Statistische Bundesamt heraus. Gleichzeitig bekommen sie später nur halb so viel Rente wie Männer.

Praetorius: Das ist ein Unding. Menschen, die Arbeit für ihre Familie leisten, müssen im Alter gut abgesichert sein – und zwar vergleichbar mit Erwerbstätigen. Dass sie bis heute nicht richtig honoriert werden, ist abstrus, aber historisch erklärbar. Familie kommt etymologisch von famulus, und das heißt “der Diener”. Die Kinder und die Frau galten lange als Besitz des Mannes. Daher galt die Arbeit, die zu Hause geleistet wurde, nicht als eigenständige Arbeit.

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