/Berlinale: Zündstoff in Neonpink

Berlinale: Zündstoff in Neonpink

Bennis Wut ist pink. Wenn die grelle, pulsierende Farbe die Leinwand flutet, rastet Benni aus. Dann schmeißt das Kind mit Bobby-Cars um sich, bis selbst Sicherheitsglas zu Bruch geht. Es schreit und spuckt und schlägt und tritt und brüllt: “Fick dich, du Arschloch!” Einmal greift Benni zum Messer. Einmal landet der Pflegebruder im Krankenhaus. Benni ist schwer zu ertragen, das macht der Film Systemsprenger schon in der ersten Einstellung klar, wenn die Leinwand noch schwarz ist, aber schon ein Fiepsen und Kreischen die Nerven traktiert. Was also tun mit so einem Mädchen?

Der Spielfilm der jungen deutschen Filmemacherin Nora Fingscheidt ist ihr Erstling. Trotzdem hat sie es damit gleich in den internationalen Wettbewerb der Berlinale geschafft und wetteifert nun um einen Bären. Dafür gibt es gute Gründe.

Da ist natürlich die starke Geschichte. Eine Neunjährige trägt so viel Energie in sich, so viel Wut und Aggressivität, dass bald keiner mehr in der Lage ist, mit ihr umzugehen. Die Mutter ist eine hilflose Person, die noch zwei jüngere Kinder hat. Sie liebt ihre Tochter, diese Liebe ist Bennis großer, unerreichter Sehnsuchtsort, aber leider auch die unzuverlässigste Konstante in ihrem jungen Leben. Wie dieser Mutter geholfen werden könnte, wäre eine ganz eigene Geschichte. Was in Bennis Kleinkindalter vorgefallen sein mag, erfährt man nicht. Heute erträgt sie es nicht, wenn ihr jemand anderes als die Mutter ins Gesicht fasst, weil jemand ihr als Baby die vollgemachten Windeln ins Gesicht gedrückt hat. Mit neun Jahren hat Benni schon mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich. 27 Heime und Wohnprojekte haben sie rausgeworfen oder weigern sich, es noch einmal mit ihr zu probieren. Im Laufe des Films werden es noch mehr werden. Immer wieder rastet das Mädchen aus und haut ab.

Dann kommt Micha (Albrecht Schuch). Eigentlich arbeitet der junge Mann mit gewalttätigen Jugendlichen, jetzt soll er Bennis Schulbegleiter werden. Er setzt ihr nicht nur Grenzen und beschützt sie vor ihrer Wut, indem er sie schnappt und aus eskalierenden Situationen wegträgt – Micha hat auch selbst eine Vergangenheit, in der Wut, Aggressivität und Gewalt eine Rolle spielten. Heute hat er sich unter Kontrolle, aber Benni spürt ihrer beider Ähnlichkeit. Und beginnt, sich an Micha zu binden.

Bruchstücke von Albträumen. Oder Erinnerungen

Rasch entlarvt Fingscheidt die Frage, die sich schnell aufzudrängen scheint – Was tun mit so einem Mädchen, das das System sprengt? – als falsche. Verkehrt ist nicht das Kind. Verkehrt ist möglicherweise das System, das keinen Ersatz für echte Bindungen bieten kann. Dieses Manko ist ein systematisches und bezieht der Film nicht auf die Menschen, die in unseren Sozialeinrichtungen arbeiten. In dem Film gibt es eine Frau Banafé, die Bennis Fall im Jugendamt betreut und die niemals von jemandem anderen vertreten wird. In der Psychiatrie kümmert sich immer dieselbe junge Ärztin um Benni; die Erzieher und Sonderpädagogen sind wohlwollend und professionell. Das sind, man vermutet es, beinahe schon ideale Zustände. Dennoch findet niemand einen Weg für Benni, sich in diese Welt zu integrieren. Was also tun mit einem System, das so offensichtlich eine Neunjährige zum Bersten bringt, wäre die passendere Frage. Wenn sich in der ersten Einstellung die Schwarzblende aufhellt, sehen wir, dass das Fiepsen und Kreischen nicht von Benni stammt. Es sind die Apparate der psychiatrischen Klinik, an die das Kind angeschlossen ist.

Nun macht eine faszinierende Story, und sei sie noch so intensiv recherchiert, allein noch keinen guten Film. Zu einem solchen gehört auch der adäquate oder – es geht immerhin um den Berlinale-Wettbewerb – gar kunstvolle Einsatz der Mittel. Fingscheidt und ihr Team haben sich entschieden, Bennis Ausraster tatsächlich mit einer Art Innensicht gegenzuschneiden. Wenn es dem Mädchen also zu viel wird, sich der ominöse Schalter umlegt und die Wut unkontrollierbar wird, flutet das heiße Pink die Bilder. Die Leinwand zersplittert in Bildfragmente, die Bruchstücke der Realität zeigen, aber auch Bruchstücke wie aus Albträumen. Vielleicht sind es auch Erinnerungen. Sie vermitteln dem Zuschauer einen starken visuellen Eindruck des Außer-sich-Seins, des völligen Ausgeliefertseins und wirken mitunter beinahe beängstigend, wenn man die Bilder völliger Dunkelheit und Eingeschlossenheit später, auf der Ebene der filmischen Realität, genau so wiederfindet: Da wird Benni vom Freund ihrer Mutter in einen Wandschrank gesperrt. Natürlich hat Bennis Verhalten eine Geschichte.

Dass der Film einen nicht abstößt, sondern mitnimmt, verdankt er auch seiner beeindruckend talentierten Hauptdarstellerin Helena Zengel. Mit ihren lichtblonden Haaren und dem fast durchscheinenden Teint sieht sie eher aus wie eine lebhafte Elfe. Sie passt in keine der üblichen Schubladen: Sie ist weder ein junger Rabauke noch eine heftig Pubertierende noch eine Großstadtverwahrloste. Sie ist ein kleines Mädchen, dessen Leben anders hätte verlaufen können, wenn wichtige Bindungen hätten wachsen dürfen. Als Zuschauer geht es einem wie dem jungen Micha: Man ist von Benni fasziniert, möchte ihr nahekommen, weil sie so offensichtlich auch schutzbedürftig ist. Nachts wacht sie auf, weil sie einnässt. Wenn sie wieder einmal umziehen muss, klammert sie sich in aller Verzweiflung an ihre Erzieher. Und dann dieses Wimmern nach der Mama. Was wäre, überlegt der Zuschauer irgendwann wie Micha, wenn man dieses Kind sich an einen binden ließe? Nun, auch das macht der Film klar: Das würde das System sprengen.

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