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Reem Sahwil: Sie war Merkels Mädchen

Im Sommer 2015 brach das Flüchtlingskind Reem Sahwil vor Angela Merkel in Tränen aus. Was ist aus ihr geworden?

Mit der Presse macht es Reem wie die Kanzlerin: Sie hält sie auf Distanz.
Ihre Nummer gibt sie nicht raus. Reporter empfängt sie nicht mehr zu Hause. Wenn man sie
treffen wolle, sagt Reem, müsse man ins Eiscafé Milano kommen.

Das Eiscafé Milano ist ein Lokal mit grellem Licht und beigefarbenen Kunstledersitzen, mitten in einer Rostocker Einkaufspassage, neben Bijou Brigitte und Body Shop. Reem sagt, das Café sei ihr Lieblingsort. Nur im Sommer 2015, nach dem Treffen mit Angela Merkel, da sei sie nicht hergekommen, da habe sie jeder erkannt. “Manche Leute haben mich angeschrien”, sagt sie. “Sie haben mit dem Finger auf mich gezeigt und gerufen: Die muss raus!” Reem bestellt, was sie immer bestellt: Eisbecher mit gemischten Früchten und Sahne.

Reem Sahwil, staatenlos, wohnhaft in der Plattenbausiedlung Rostock-Evershagen, geboren im Libanon, in einem Lager für palästinensische Flüchtlinge, wurde im Sommer 2015 berühmt, weil sie vor Angela Merkel in Tränen ausbrach, vor laufenden Kameras. Die Begegnung bescherte beiden, Merkel und dem Mädchen, einen Shitstorm. Und sie war der Beginn einer politischen Wandlung, die das Bild der deutschen Kanzlerin von Grund auf verändern sollte.

Bevor Angela Merkel “Wir schaffen das” sagte, sagte sie: Wir schaffen das nicht. Das war am 15. Juli 2015, in der Turnhalle von Reems Schule. Merkel war für ein Bürgergespräch zu Besuch, sie wollte mit den Schülern reden, über Deutschland und die Demokratie. Das Fernsehen war da, Moderatoren reichten Mikrofone herum. Ein Standardtermin für Merkel. Bis Reem das Wort ergriff.

Reem sagte: “Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht.” Sie erzählte von ihrem Leben als Flüchtlingskind, vom jahrelangen Warten auf den Asylbescheid, von der Angst, abgeschoben zu werden. “Ich hab Ziele”, sagte sie. “Ich möchte studieren.” Sie war damals 14 Jahre alt.

Merkel entgegnete, Reem sei zwar “unheimlich sympathisch”, aber Politik sei ein hartes Geschäft. Menschen, die nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen, müssten Deutschland wieder verlassen. “Wenn wir jetzt sagen: Ihr könnt alle kommen – das können wir auch nicht schaffen.”

An dieser Stelle hätte die Geschichte von Reem Sahwil und Angela Merkel enden können, als eines jener flüchtigen Treffen, an die sich später kaum jemand erinnert. Doch was folgte, blieb im Gedächtnis der Deutschen hängen. Als Beispiel für das, was passieren kann, wenn die Ratio derer, die Politik machen, auf die Gefühle jener trifft, die Politik ertragen müssen: Reem fing an zu weinen. Merkel wollte trösten, es sah hilflos und ungelenk aus. Das Video ging um die Welt, und viele, die es sahen, fanden Merkel herzlos und kalt. Die Hashtags #Merkelstreichelt und #NichtMeineKanzlerin trendeten auf Twitter. Die mächtigste Frau der Welt versuchte Trost zu spenden. Sie erntete Spott.

Reem ist heute 18 Jahre alt. Sie trägt eine glitzernde Kette und eine Zahnspange. Reem erzählt, dass sie Psychologie studieren will oder Deutsch auf Lehramt. Sie erzählt von ihrer Mutter, die Sozialarbeiterin in einem Flüchtlingsheim ist. Von ihrem jüngeren Bruder, der Bastian Schweinsteiger mag und Fußballstar werden will. Sie sagt, man könne mit ihr über alles reden. Nur nicht über Politik.

Damals, als das Video der weinenden Reem um die Welt ging, kamen Reporter zu ihr nach Hause. Die
Bild-Zeitung druckte ein Porträt, die
New York Times
eine Homestory, Reem in ihrem Kinderzimmer, auf dem Bett, mit Plüsch-Delfin.

Als die Artikel über Reem erschienen, machten manche Leser ihr Mut. Andere schrieben: “Palästinensische Heulsuse.” Oder: “Mal schauen, wann für ein deutsches Kind die Hartz-IV-Sätze angehoben werden, wenn es nur medienwirksam genug heult.”

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