/“Sandbergs Liebe”: Der kalte Blick in uns hinein

“Sandbergs Liebe”: Der kalte Blick in uns hinein

Dieser Roman wird als Protokoll perfider Manipulationsstrategien beworben, so als ginge es um eine romantische Beziehung, in der nur einer liebt. Das legt eine falsche Fährte. Das wirkliche Ereignis in Sandbergs Liebe ist kein Debattenbeitrag zum Thema “emotionaler Missbrauch”, sondern ein unzuverlässiger Ich-Erzähler, dessen Worthülsen unser gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit abbilden. 

Den Voyeurismus kitzelnde Faktizitätsbehauptungen liegen bei Romanen spätestens seit Knausgard im Trend. Entsprechende Werbung scheint also strategisch schlau. Manchmal ist ein Buch jedoch schlauer als sein Marketing. Im Klappentext zum dritten Roman des Autors Jan Drees heißt es: “Sandbergs Liebe, dem eine persönliche Erfahrung zugrunde liegt, führt in beinahe protokollarischer Genauigkeit und mit großer psychologischer Kenntnis vor Augen, wie Manipulation das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zerstören und infolgedessen die Psyche eines Menschen in ihren Grundfesten erschüttern kann.” Dieser Deutung folgt auch Melanie Mühl in der FAZ. Die Liebe des Protagonisten sei groß, schreibt sie. Die Liebe seiner Freundin Kalina hingegen “narzisstische Eigenliebe, die den neuen Mann an ihrer Seite zerstören will”. Auch eine deutlich ausgewogenere Kritik im NDR behauptet am Text vorbei, die Vereinnahmung ginge von Kalina aus. Der übel missbrauchte Romantiker hier, die schwarzromantische belle dame sans merci da – beruhend auf einer wahren Begebenheit. Schlimmstenfalls hätten wir es mit dem Racheroman einer verletzten Schriftstellerseele zu tun.

Abgesehen von dem fragwürdigen Trend, literarische Texte mit einer Beglaubigung aus der Realität aufwerten zu wollen und Romane zunehmend vor allem als feuilletonistischen Debattenbeitrag zu begreifen: Die Lektüre von Sandbergs Liebe offenbart ein ungleich komplexeres Beziehungsgemälde, als solche einfachen Täter-Opfer-Zuschreibungen suggerieren. 

Angst vor Altern und Verfall

Kristian Sandberg ist Anfang 30 und bereits verzweifelt, bevor er über eine Dating-App die “Frau seiner Träume” kennenlernt. Nach sechs Wochen mit Kalina ist er ein Wrack. Laut dem kurzen Prolog des Romans ist Sandberg seit dem Ende dieser gefährlichen Beziehung verschwunden, vielleicht hat er sich umgebracht. Während Prolog und Epilog einen anonymen, allwissenden Erzähler nutzen, gehört der Haupttext allein Sandbergs subjektiver Perspektive. Und diese verrät mehr über ihn als über seine gefährliche Geliebte. Im ersten Kapitel, noch vor seiner Bekanntschaft mit Kalina, verlebt Kristian einen depressiven Urlaub alleine auf Teneriffa. Neben Zeichen von Angst vor Altern und Verfall, die weniger deutlich gesetzt sind als im Tod in Venedig, ist hier die Erwähnung interessant, dass Sandberg wiederholt zu Prostituierten geht.

Was sucht er in dem gekauften Sex? Und was verspricht er sich kurz darauf als frisch gebackener Literaturagent von Kalina, einem Match in seiner Dating-App? Die 36-jährige Zahnärztin sieht toll aus, spricht mehrere Sprachen, hat eine Eigentumswohnung in Hamburg-Eppendorf und schreibt ihm gleich nach dem ersten Date: “Du bist ein wundervoller Mann.” Kurz darauf versetzt sie ihn, dann nimmt sie ihn mit nach Dänemark, wo sich ihre Praxis befindet. Dort gesteht Kristian seiner neuen Freundin: “Ich glaube, ich liebe dich – auch wenn es plötzlich ist, beinahe zu früh.” Sie antwortet: “Ich weiß. Ich glaube, ich liebe dich genauso.”

Ist er das “Opfer”?

Die Beziehung dauert keine zwei Monate, beinhaltet aber sämtliche filmreife Zutaten: Verlobung und gemeinsamer Kinderwunsch, weibliche Eifersucht und männliche Selbstwertprobleme, Bindungswunsch und Bindungsangst, krass voneinander abweichende Interpretationen der Wirklichkeit, Cocktails an hippen Orten und abrupte Trennung. Der Ich-Erzähler formuliert in seiner pathetischen Sprache: “Ich taumle im Unfassbaren. Weshalb werde ich von meiner Freundin immer wieder unter Verdacht gestellt? Ich begreife es nicht. Mein Empfinden für sie entspricht nicht der Art, wie sie es deutet, im Gegenteil, sie wertet es um.”

Das Kunststück des Romans besteht darin, dass wir dazu gezwungen sind, die Welt nur aus den Augen des Ich-Erzählers zu sehen, dabei aber gleichzeitig in seinen Kopf gucken können und dabei zunehmend das Vertrauen in unsere eigene Wahrnehmung verlieren. Macht Kristian mit uns als Leserschaft das, was er Kalina vorwirft? Ist er wirklich der liebende Mann, der zum “Opfer” einer “Borderlinerin” wird? Manipuliert er Kalina nicht selbst, etwa indem er ihr eine Nachricht schreibt, in der er das “Wort Liebe als zu schwach” für seine Gefühle ihr gegenüber benennt, und einen Tag später droht, die Beziehung zu beenden, weil Kalina ein Treffen mit ihm und seinen Freunden absagt? Was ist davon zu halten, wenn Kristian vor seinem ersten Date mit der schönen Zahnärztin räsoniert: “Ich denke darüber nach, dass (…) ich ankommen, nicht mehr suchen, sondern bei jemandem sein möchte, den ich wirklich begehre, für immer.”

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