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Overtourism: Das doppelte Lissabon

Als ich die Eingangshalle des Bahnhofs Rossio in Lissabon betrete, zweifele ich an meinem Vorhaben. Es ist ein milder Freitagvormittag Ende November und es ist genauso wuselig, wie ich es in Erinnerung hatte. Menschen wechseln von der Schlange am Ticketschalter zur Schlange am Ticketautomaten – und wieder zurück. Sie sprechen Englisch, Italienisch, Spanisch, und sie wollen nach Sintra. Ich dagegen überlege umzukehren. Ich war schon einmal in Sintra, ich weiß, dass die Kleinstadt nicht unbegrenzt viele Menschen aushält.

Lissabon und sein märchenhafter Vorort gehören derzeit zu den beliebtesten und also zu den vollgestopftesten Orten Europas. Mit gut 500.000 Einwohnern ist Portugals Hauptstadt etwas kleiner als Leipzig, zieht aber jährlich mehr als 4,5 Millionen Touristen an. In Hochzeiten übersteigt die Zahl der Besucher die der Einwohner. Was das heißt, habe ich im Sommer erleben müssen. Overtourism, das tue ich mir und der Stadt nicht noch ein Mal an, dachte ich damals. Und nun, stehe ich doch wieder hier.

Vergangenes Jahr zählte das Oxford Dictionary overtourism zu den Wörtern des Jahres. Währenddessen diskutieren die Schweden über Flykskam, eine Wortschöpfung, die man mit Flugscham übersetzen kann. Seit einiger Zeit schämen wir uns für unsere Reiselust, für die Sehnsucht danach, die Welt zu erkunden. Wir merken, dass ein System krank sein muss, in dem ein Restaurantbesuch mehr kostet als ein Mittelstreckenflug mit Ryanair. “Man dürfte Städtereisen eigentlich gar nicht mehr machen”, hatte ich im Sommer zu einem Freund aus Lissabon gesagt. “Du hast doch keine Ahnung, wie öde es hier ohne euch Touristen ist”, entgegnete er.

Da wird nicht mal geheizt

Der Freund heißt Isac Lopez, ist 34 Jahre und DJ in einer Bar auf dem Dach eines Parkhauses in Bairro Alto. Von der Terrasse hat man freien Blick auf den Tejo und die Brücke des 25. April, die mit ihrer roten Lackierung an die Golden Gate Bridge in San Francisco erinnert. Im September tanzten hier oben All The Single Ladies, fühlten sich weiße Jungs in Segelschuhen wie in Gangsta’s Paradise. Isac hatte hinter seinem Pult gestanden und jeden Abend pflichtgemäß die besten Hip-Hop-Tracks der Neunziger gespielt. Im Winter, hatte er damals erzählt, könne er spielen, was er wolle, am liebsten Soul-Klassiker verrührt mit eigenen Beats, dann kämen eh keine Gäste. Isac brachte mich auf eine Idee, die, in anderen Worten, auch der Lonely Planet empfiehlt. “Reisen Sie off-season”, heißt es da, außerhalb der Saison.

Lissabon Ende November also, kann das wirklich die Alternative sein?

Der erste Morgen nach meiner Ankunft: Ich liege im Bett und schaue zu, wie sich die Sonne durch die Balkontür in mein Zimmer schleicht. Ich denke an meine Freunde zu Hause, die skeptisch auf meinen Plan reagiert hatten. “Dort wird nicht geheizt”, hatten sie gewarnt, “ich will nicht wissen, wie rutschig die steilen Straßen erst bei Regen sind.” Euphorisiert vom plötzlichen Frühling, eile ich ins Badezimmer, wühle hektisch den Trenchcoat und die Sonnenbrille aus dem Koffer und breche auf.

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