/Spitzensteuersatz: Der Mythos vom gefräßigen Staat

Spitzensteuersatz: Der Mythos vom gefräßigen Staat

Kaum ein Steuerthema scheint die Deutschen so sehr zu
bewegen wie der Spitzensteuersatz. Seit Bundesfinanzminister Olaf Scholz in der
ZEIT eine Erhöhung der Abgabe von 42 auf 45 Prozent gefordert
hat, ist eine
Debatte über den Sinn oder Unsinn einer höheren Steuerbelastung von
Gutverdienenden entbrannt.

In dieser Debatte allerdings geht einiges
durcheinander. Deshalb hier ein Beitrag, der drei Mythen um den Spitzensteuersatz entkräftet.

1. Millionen von Normalverdienern bezahlen den Spitzensteuersatz

Das ist korrekt, aber dann auch wieder nicht. Nach Angaben
des Bundesfinanzministeriums haben im vergangenen Jahr rund 2,9 Millionen
Deutsche den Spitzensteuersatz bezahlt
. Das bedeutet aber nicht,
dass diese Menschen auch tatsächlich 42 Prozent ihres Einkommens an den Staat
abgeben müssen. Denn der Spitzensteuersatz muss nicht – wie man vielleicht meinen
könnte – auf das gesamte Einkommen eines Spitzenverdienendens entrichtet werden,
sondern nur auf den Teil des Einkommens, der eine bestimmte Grenze
überschreitet. Aktuell liegt diese Grenze bei einem zu versteuernden Einkommen
55.961 Euro für Singles und 111.922 Euro für Ehepaare. 

Wichtig ist außerdem: Das zu versteuernde Einkommen
entspricht nicht dem Bruttoeinkommen, weil Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bestimmte Posten – etwa
Aufwendung für die Altersvorsorge – von der Steuer absetzen dürfen. Die genaue
Höhe dieses Betrags hängt von den persönlichen Umständen ab. In der Regel
beläuft er sich in dieser Einkommensklasse aber auf etwa 10.000 Euro. Das
bedeutet: In der Praxis wird der Spitzensteuersatz ab einem Bruttoeinkommen von
rund 65.000 Euro fällig.

In der Summe haben diese beiden Effekte zur Folge, dass die
Belastung durch den Spitzensteuersatz deutlich weniger drakonisch ist, als es
zunächst den Anschein hat. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat einen
Steuerrechner programmiert, mit dem das jeder selbst prüfen kann
. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Haushaltseinkommen von 125.000
Euro brutto würde bei der FDP wohl zu den viel zitierten Leistungsträgern der Gesellschaft zählen. Diese Familie zahlt im Jahr inklusive
Solidaritätszuschlag 30.456 Euro Steuern. Das entspricht einem
durchschnittlichen Steuersatz von 24 Prozent. Zeugt das von übertriebener
staatlicher Gier gegenüber diesen Leistungsträgern? Urteilen Sie selbst. Ich
finde: eher nicht.

Übrigens, dieselbe Familie bezahlt gerade einmal 13 Prozent
ihres Einkommens an Steuern, wenn sie 60.000 Euro brutto verdient. So viel zum
Thema Abzocke der Mittelschicht. Wenn die Sozialbeiträge und die indirekten
Steuern einbezogen werden, ergeben sich andere Belastungswirkungen, aber das ist
hier schließlich nicht das Thema.

2. Ein hoher Spitzensteuersatz schadet der Wirtschaft

Das ist zumindest umstritten. Das Argument für diese These
geht ungefähr so: Wenn sich der Staat einen
großen Teil des Einkommens nimmt, dann lohnt sich Leistung nicht mehr.
In der Folge arbeiten die Menschen weniger, die Managerinnen und Manager vernachlässigen ihr
Unternehmen und potenzielle Unternehmensgründer gehen das Risiko nicht mehr
ein, das der Aufbau eines eigenen Betriebs immer mit sich bringt.

Dieses Argument ist sicher nicht ganz falsch, aber hier gilt wie so oft: Es kommt auf die Dosis an. Ein Steuersatz von 60 oder 70 Prozent ab dem ersten Euro würde sicherlich einen großen Teil der ökonomischen Aktivität zum Erliegen bringen. Darum geht es aber nicht. Es geht um Steuererhöhungen für Topverdiener. Ob es für den Arbeitseinsatz wirklich einen Unterschied macht, dass der Spitzensteuersatz bei 45 statt bei 42 liegt, ist zumindest fraglich. Zumal Scholz vorhat, die zusätzlichen Einnahmen zu verwenden, um Arbeitnehmer mit geringerem Einkommen zu entlasten beziehungsweise den Betrag zu erhöhen, ab dem der Spitzensteuersatz greift. In gleicher Weise könnte man auch dafür sorgen, dass kleinere und mittlere Unternehmen, die zum Teil ebenfalls den Spitzensteuersatz bezahlen, entlastet würden, wenn die Anhebung für sie ein Problem wäre.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel
der USA. In den Fünfziger- und
Sechzigerjahren lag der Spitzensteuersatz dort zum Teil bei stolzen 91 Prozent,
erst in den Achtzigerjahren fiel er unter die Marke von 70 Prozent. Da kam
Ronald Reagan an die Macht, der die Spitzenverdiener deutlich entlastete. Nun
gab es damals etliche Ausnahmeregelungen und die hohen Sätze griffen erst bei
sehr hohen Einkommen. Trotzdem zeigt der Blick in die Geschichte, dass ein
hoher Spitzensteuersatz durchaus mit hohen Wachstumsraten einhergehen kann.

3. Der Staat ertrinkt doch ohnehin im Geld

Das tut er, aber nur
wenn man die Steuereinnahmen aus ihrem ökonomischen Zusammenhang reißt. Der jüngsten Steuerschätzung zufolge belaufen sich die Steuereinnahmen von Bund, Ländern
und Gemeinden in diesem Jahr auf 804 Milliarden Euro. Das ist ein Rekord. So viel Geld hatte die
öffentliche Hand noch nie zur Verfügung, was auf den ersten Blick die These vom
gierigen Staat bestätigt.

Allerdings sind mit den
Einnahmen auch die Aufgaben gewachsen. Es gibt heute mehr Fabriken, Betriebe,
Verkehrswege als in den Sechziger- oder Siebzigerjahren. Die Preise sind
gestiegen, die Bedürfnisse der Menschen haben sich verändert. Deshalb werden
die Staatsausgaben üblicherweise auf das Bruttoinlandsprodukt bezogen. Diese sogenannte Staatsausgabenquote ist in den vergangenen Jahren eher gefallen. Laut einer Erhebung der Industrieländerorganisation OECD lag sie in Deutschland zuletzt bei 43,9 Prozent, im Jahr 1997 waren es noch 48,05 Prozent.

Ist das viel? Ist das
wenig? Darüber kann man streiten. Der Wert ist zumindest im europäischen
Vergleich nicht auffällig. Die Staatsausgabenquote in Österreich beträgt 50,3
Prozent, in Dänemark 52,7 Prozent und in Schweden 49,7 Prozent.

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