/Verkehrspolitik: Hauptsache, weg von der Straße

Verkehrspolitik: Hauptsache, weg von der Straße

Kilometerlange Staus, genervte Pendler, Baustellen, Unfälle – in den Innenstädten zeigt sich wie unterm Brennglas das Versagen einer Politik, die jahrelang nur auf Wachstum aus war. Es regiert, sowohl verkehrstechnisch als auch verkehrspolitisch, der Immobilismus. In Jakarta beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit im Stadtverkehr je nach Schätzung zwischen fünf und acht Kilometer pro Stunde, also nur geringfügig mehr als Schrittgeschwindigkeit. Ganze zehn Jahre seines Lebens verbringt ein Bewohner Jakartas im Stau. Es gibt gewiss schönere Orte. Die Bilanz des ADAC auf deutschen Straßen ist nicht erbaulicher: 457.000 Stunden, umgerechnet 52 Lebensjahre, standen Verkehrsteilnehmer hier 2017 still. 

Der im September verstorbene französische Philosoph Paul Virilio hat 1990 in seinem Essay Der rasende Stillstand das Paradoxon beschrieben, dass die Beschleunigung der Gesellschaft zu einem Zustand der Bewegungslosigkeit führte. “Schon im 19. Jahrhundert hat die Entwicklung der Aufzüge in Hochhäusern und der Rolltreppe oder des Rollsteigs dazu beigetragen, den Zugang zur Höhe oder zur Ausdehnung zu relativieren, wobei die unterschiedlichen Prothesen der physischen Fortbewegung die Immobilie um das ergänzt, was die Eisenbahn, die Untergrundbahn oder das Automobil bereits im Bereich der Mobilie verwirklicht hatten.” Am Ende des 20. Jahrhunderts aber habe sich die Situation umgekehrt: Auf die Mobilisierung der Immobilien folge eine häusliche Bewegungslosigkeit.

Der “bewohnbare Verkehr”, von dem Virilio schrieb, zeigt sich heute auch im Stau, wo sich Blechlawinen aus Wohncontainern im Schneckentempo stadteinwärts wälzen. Der Philosoph prophezeite, dass der Aufschwung des automobilen Verkehrs – man denkt hier an die Flugtaxis, die Uber entwickelt – “vom entfesselten Nomadismus zur Bewegungslosigkeit” führen werde, “zur endgültigen Sesshaftigkeit der Gesellschaften”. Ist die nächste und vielleicht letzte Entwicklungsstufe des Verkehrs vielleicht eine gesellschaftliche Utopie, weil man entweder gar nicht mehr vom Fleck kommt oder das hektische Nomadentum der Pendelei endet?

Das Auto ist längst Anti-Utopie

Vor diesem Hintergrund wirkt die aktuelle Diskussion um Tempolimits auf deutschen Autobahnen geradezu surreal. Es wird angenommen, das Recht auf Rasen sei ein Naturrecht, als sei die Fahrbahn frei, als käme eine Geschwindigkeitsbegrenzung einer Gängelung gleich. Dabei gibt es ja schon längst ein inoffizielles Tempolimit, das im Stop-and-go der Rushhour bei gefühlten zehn Stundenkilometern liegt. Die Diskussion um Tempolimits hat etwas Simulatorisches, weil man so tut, als könne man etwas regulieren, was im Grunde schon längst nicht mehr steuerbar ist. Wenn nun Stauforscher behaupten, ein generelles Tempolimit sei gefährlich, fragt man sich, ob sie das zum Schutz der Bürger oder ihrer eigenen Profession sagen. Womöglich sind sich die Gegner des Tempolimits gar nicht bewusst, dass sie mit ihrem Bekenntnis zur Beschleunigung akzelerationistisch, sprich antikapitalistisch argumentieren: Der Stillstand soll weiterrasen dürfen wie bisher – bis der Kapitalismus gegen die Wand fährt.

Das Auto, das einmal für Aufbruch und Fortschritt stand, ist zur Anti-Utopie geworden. Es ist längst kein Statussymbol mehr, vielmehr ein lästiger Klotz am Bein der ortsgebundenen somewheres” (David Goodhart), die ohne die Mobilitätsprothese schon längst abgehängt wären. In der postmaterialistischen Gesellschaft protzt nur noch der Proll mit dem Sportwagen vor der Haustür. Wer es sich leisten kann, wohnt in der Innenstadt und fährt mit dem Rad zur Arbeit. Gleichwohl: Die Abschaffung des eigenen Autos muss man sich leisten können.

Im Rückspiegel sollte man wohl auch die Bewegung der französischen Gelbwesten, die Radarfallen demolierten und Kreisverkehre blockierten, anders bewerten. Bei dem landesweiten Aufstand handelte es sich nicht etwa um eine antifiskalische Fronde – die Energiesteuer auf Kraftstoffe war lediglich der Auslöser –, sondern um einen mobilisatorischen Protest der France périphérique” (Christophe Guilluy). 70 Prozent der Franzosen geben an, dass sie sich abhängig vom Auto fühlen. Sie fühlen sich nicht bloß wirtschaftlich oder kulturell vom Zentrum abgehängt, sondern zunächst verkehrstechnisch. Der öffentliche Nahverkehr ist in der Provinz, etwa im Département Nièvre, schlecht ausgebaut – dort war der Protest am stärksten. Die fehlende Mobilität (These) führte zur landesweiten Mobilisierung bzw. Mobilmachung (Antithese), die in der Synthese eine Demobilisierung durch die Blockade von Straßen bewirkte. Die Warnwesten, die sich die Demonstranten als Signet umhingen, haben ja eine starke Symbolkraft: Man zieht sie im Straßenverkehr nur dann an, um auf einen Unfall hinzuweisen oder allgemeine Achtsamkeit zu provozieren.

Hits: 13