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Kassel: Die Nestwerker

Kann Kassel cool sein? Transparenz ist Trumpf. Daher möchte ich gleich zu Beginn offenbaren, dass der Auftrag für den vorliegenden Text nicht etwa lautete: “Guck doch mal, was es in Kassel jenseits der Documenta noch an Kunst, Kultur und Szene gibt.” Sondern knallhart formuliert: “Ist Kassel cool?”


Off-Kultur, Clubszene und so weiter gelten als Zeichen von “Coolness” einer Stadt. Aus meiner Sicht ist dies daher eine zulässige Zuspitzung eines berechtigten journalistischen Erkenntnisinteresses. Auch wenn die Fragestellung bei einigen damit konfrontierten Kasselern und Kasselerinnen im Vorfeld der Recherche Unwillen, Abwehr und – vor allem bei Weggezogenen – höhnisches Gelächter auslöste.

Kassel, scheint es, will gar nicht cool sein. Es hat sich gut eingerichtet in einem herb-milden Spannungsfeld mit drei Eckpunkten: der lieblichen Erhabenheit seines Wilhelmshöher Weltkulturerbes und sonstiger Natur, der brachialen Angesagtheit des “alle fünf Jahre vorbeirauschenden Documenta-Zugs”, so ein Galerist vor Ort, und einer leicht abweisenden Asphaltiertheit, die die Menschen einen Großteil des Jahres eher ins Innere als in eine mögliche Szene treibt. Ist es nun nicht aber gerade cool, nicht cool sein zu wollen?

Womit wir schon mitten im Thema wären. Indem die Redaktion mich als Beantworter der Frage “Ist Kassel cool?” ausgewählt hat, sendet sie im Übrigen einen Reporter in die nordhessische Metropole, der auf Kurzreisen sein eigenes Kopfkissen mitführt, seine Notizbücher durchnummeriert und in ein leichtes Wimmern verfällt, wenn er im ICE nicht in Fahrtrichtung sitzen kann. Es gibt keine erkennbare Autoren-Coolness, die vor Ort Vorgefundenes überstrahlen könnte.


Dieser Artikel stammt aus MERIAN Heft Nr. 05/2017
© MERIAN

Kann man sich in Kassel einfach cool treiben lassen? Sagen wir, die Stadt hat eine typische Nachkriegsstruktur, von damals, als den Autos die Zukunft gehörte. Breite Straßen, große Kreuzungen, als Fußgänger zieht es einen immer wieder unter die Erde, in eine der zahlreichen Unterführungen. Eine davon ist die stark verzweigte unter dem Holländischen Platz, direkt an der Universität. Fünf ihrer Gänge sind komplett mit Graffiti geschmückt, und zwar mit richtigen Wandbildern: Der Verein “Raum für urbane Experimente” – abgekürzt “RuE”, wegen Straße – des brasilianischen Designstudenten, Künstlers und Aktivisten Marcel de Medeiros kuratiert hier die Werke internationaler Graffiti-Künstler. Klar, Graffiti gibt es überall, aber: In dieser technischen Qualität, inhaltlichen Vielfalt und geografischen Konzentration sieht man sie anderswo nicht. Und der Effekt, wenn man am zentralen Kreuzungspunkt der unterirdischen Gänge steht, ist wirklich cool.

Wenn man sich um die eigene Achse dreht, ist es, als stünde man in einem Kaleidoskop voller Kreaturen, Formen, Farben und Slogans, die miteinander und vor allem mit den Passanten kommunizieren. Sie sagen einem, dass die wuchernde Unterführung nicht nur eine verkehrstechnische Notlösung ist, sondern eine Erinnerung daran, wer hier die Stadt für sich beansprucht: jene, die bereit sind, sie zu verschönern.

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