/Nora Bossong: Der Geist erstickt mit Graubrot

Nora Bossong: Der Geist erstickt mit Graubrot

Zum Glück werden Gedichtbände meist von
der ersten Seite an gelesen, egal wie sinnvoll das im Einzelfall sein mag. Denn
wer Nora Bossongs Kreuzzug mit Hund ab der Mitte aufschlüge, etwa beim
Kapitel Okzidentien oder Altes neues Land, der bekäme einen
fatalen Eindruck. Wieder eine dieser Sammlungen von überbelichteten Reisedias!
Ein lyrisches Ich durchmisst die Welt und zieht seine Impressionen im
Großformat auf erhabene Verse, die wie Spannbeton Zeit und Raum überbrücken
sollen. Bei Nora Bossong sind es Orient und Okzident:

 “Die
Stadt Davids war mit Wellblech abgedeckt, I love Jerusalem
das
Logo. In Berlin hatte ich noch Moses gesehen […]”

Andernorts lässt Bossong so kunstfertig
wie belanglos die Assonanzen sprühen:

“Knisternd
schritt ich an Pfauen vorbei, ein Zweig
schrieb
Zeilen, und Teufel hockten zwischen Rosen.”

 Teufel aber auch, diese unsägliche
Tradition, Bildungsreisen poetisch aufzumöbeln! Sie stirbt einfach nicht aus:

“Genua
Jemand
hatte über Nacht, eine Nacht vor Jahrhunderten
die
Stadt zusammengeschoben mit großen unsichtbaren
Händen,
mittelalterliche Hochhäuser, deren Traufen
sich
berühren an einem Punkt nah dem Unendlichen.”

Wenn es schon Urlaubsselfies mit lyrischem
Ich sein müssen, dann doch bitte gestochen scharfe, kontrastreiche, mit
ordentlich Sättigung. Goethes Römische Elegien lesen sich heute ja nur
deshalb noch einigermaßen mit Genuss, weil er seine Schweinereien hochkulturell
verbrämt. Dieses Spannungsgefälle erzeugt den Reizstrom und eben nicht all die
Jupiters und Ariadnes, die der Herr Minister in seinen Distichen antanzen
lässt. Da kömmt dem Leser und der Leserin allenfalls ehrfürchtiges Gähnen an.
So geht es einem manchmal auch mit den Gedichten aus dem hinteren Teil von Nora
Bossongs Kreuzzug. Das ist Deutschlehrerlyrik.

Die Verse sitzen

Aber
zum Glück lesen wir Gedichtbände ja meist von Anfang an, und die A-Seite, also
die ersten 65 Seiten von Bossongs Lyrikalbum, hält echte Hits parat.

 “Alte
Tante Politik

Sie
wohnt feudal, doch im Nebenraum:
Nationalgalerie,
zweiter Stock links. Dort
steckt
sie fest in einem Bild von sich selbst,
kommt
nicht heraus, nicht vor, nicht zurück,
ein
Porträt, das versucht zu gehen, Öl ohne Feuer. […]”

“Sie wohnt feudal, doch im Nebenraum”, das hätte Enzensberger zu seinen besten Zeiten nicht besser dichten können. Die
Politik als “Tante” zu personifizieren ist das eine. Sie dann aber mit einem
Bild zu vergleichen, das ausgerechnet in der “Nationalgalerie” hängt und dort
nur in einem Nebenraum, das ist brillant. Das Wortfeld Bild, Gemälde, Kunst,
Porträt
erweist sich im Kontext der Politik als verblüffend fruchtbar. Mit
dieser Perspektivverschiebung rückt Bossong vieles gerade. Ihr lyrischer
Blick sagt mehr als tausend Reden über den gegenwärtigen Zustand der Politik,
ihre Hilflosigkeit und Lähmung: “Das ist ihr Aufstand nach Vorschrift.”

Nora Bossongs Verse sitzen wie
angegossen. Dank feinem Rhythmusgefühl lassen sie trotzdem Spielraum für einen lockeren Groove:
“Ich muss Ihnen sagen, es kommt nicht, es ist.” (Unde malum), “Sie hat
sich aus ihren grauen Augen herausgeschlichen” (Sachbearbeiterin K), “Den
Geist erstickt mit Graubrot, Fleiß und Schürzenfalten” (Flachs). 

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