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Lausitz: Und jetzt guckt ihr

Vierzig Jahre ist das her. Der sogenannte Jahrhundertwinter zum
Jahreswechsel 1978/79. Damals fielen die Temperaturen zunächst an der Ostseeküste binnen
Stunden in den zweistelligen Minusbereich, bevor die Kälte- und Schneewelle die bis dahin
lauwarmen Regionen südlich von Berlin erreichte. Ich habe davon in der
Sächsischen Zeitung
gelesen und, dadurch angestoßen, Leute auf der Straße, in Gaststätten, in Bussen darüber
reden hören. Die meterhohe Schneedecke, die nur die oberen Enden der Straßenschilder frei
ließ, die zugefrorene Ostsee. Viel wichtiger, viel eindringlicher aber: die eingeschneiten,
vereisten Tagebaue in der Lausitz. Die Kohle, die nicht mehr abgebaut werden konnte. Schienen,
die brachen. Sprengungen durch die Nationale Volksarmee. Hunderte Soldaten in Extraschichten.
Und trotzdem, trotz aller Bemühungen und Anstrengungen, sank die Braunkohlefördermenge täglich
und schrumpften die eisernen Reserven. Nach und nach wurden die Kraftwerke runtergefahren und
die DDR mit ihren Millionen Haushalten dunkel und kalt.

Kurz zuvor, auf dem neunten Parteitag der SED, war beschlossen worden, dass die Energie für die DDR einzig und allein durch die Braunkohle zu gewinnen sei. Kein Gas, kein Erdöl. Vorzugsweise Kohle aus den Lausitzer Revieren. Also alles rund um Hoyerswerda, Weißwasser, Görlitz.

Bis zu jenem Winter 1978/79 werden es einige gemutmaßt haben, aber danach war es den meisten bewusst: Das ist absolut fatal, sich auf einen einzigen Energieträger zu fokussieren. Dementsprechend skeptisch sind viele Lausitzer, wenn es heute heißt, dass in den erneuerbaren Energien, und nur da, Heil und Zukunft liegen.

Lausitz: Und jetzt guckt ihr

Und jetzt guckt ihr
© ddp

Aber, und auch dafür haben die LausitzerInnen ein Bewusstsein entwickelt: Irgendwann wird Schluss sein mit dem ewigen Baggern, mit dem Dörferumsiedeln, mit dem Ruß, dem Schmutz, den riesigen Löchern, den Tonnen von Sand und Kohle. Außerdem ist es ja nicht so, dass man hier keine Erfahrung mit dem Abwickeln von Industrie hätte. Jetzt also die Kohle. Der letzte große Industriezweig mit schätzungsweise 20.000 Beschäftigten. Problematisch ist nur, wie es passiert, wie abgewickelt wird. Schon wieder. Welche Alternativen geboten werden. Ich kenne LausitzerInnen, für die das nicht die ersten Versprechen und Umstrukturierungspläne sind. Die haben seit der Wende oft genug von Förderprogrammen gehört und lächeln jetzt müde darüber.

Man bekommt beim Durchqueren der Lausitz – nicht einmal explizit hier, nicht einmal ausschließlich in diesem ominösen Ostdeutschland – mitunter den Eindruck, dass politische Wirtschaftsförderprogramme von einem Menschen ausgehen, der entweder nur Auto fährt oder sein Geld in Einkaufszentren ausgibt, die vor leer gefegten Innenstädten entstehen. Umgehungsstraße, Umgehungsstraße, Umgehungsstraße. Gewerbegebiet, Gewerbegebiet, Gewerbegebiet. Das ist alles, was passiert, alles, was angeboten wird. Als gäbe es weiter nichts im Leben, als von A nach B zu kommen oder Geld im Einzelhandel zu lassen.

In der Lausitz hat man zusätzlich noch angefangen, den Leuten zu erzählen, die Zukunft würde im Tourismus liegen. Also werden alle Tagebaulöcher mit Wasser gefüllt. Strand aufschütten. Parkplatz, Umgehungsstraße, Einkaufszentrum. Fertig. Auf diese Weise soll Europas größte künstliche Seenplatte entstehen. Das klingt toll, hilft aber den Leuten, die noch nicht weggezogen sind, ebenso wenig wie die versprochene Ansiedlung von Bundesbehörden oder Forschungseinrichtungen im dann stillgelegten Kohlerevier. Als würden alle ehemaligen ArbeiterInnen und prekär beschäftigten DienstleisterInnen auf einmal BeamtInnen oder WissenschaftlerInnen.

Im 21. Jahrhundert aus einer Schlüsselindustrie des 20. Jahrhunderts aussteigen? Ja, das war abzusehen. Musste irgendwann so kommen. Die LausitzerInnen sind mehr oder weniger darauf vorbereitet. Aber das Ganze dann mit wirtschaftspolitischen und strukturpolitischen Ideen des 20. Jahrhunderts kompensieren? Genau da liegt das Problem.

Und jetzt gucken alle hin, zum ernannten kranken Patienten Deutschlands. Der Wolf, der Strukturwandel, die Deindustrialisierung, der Kohelausstieg, die Grenzkriminalität, die Überalterung. Andere Regionen Deutschlands sind so nichtssagend und langweilig, dass sie sich Label ausdenken müssen. Die Lausitz hat sie gleich alle bekommen, die volle Palette. Wenn die Lausitz scheitert, scheitert der Osten. Das Ende war nie so nahe. Dabei hat der Rest Deutschlands mindestens die gleichen Probleme, den gleichen bangen Blick in die Zukunft, die gleiche große Koalition. Und alles, was angeboten wird, sind Gewerbegebiete.

Das ist schon gut, dass es eine Aufmerksamkeit gibt, dass eine sogenannte Kohlekommission eingesetzt wurde. Dass offenbar begriffen wurde, dass man einen Industriezweig nicht einfach abwickeln kann, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Immerhin. Endlich. Aber: “Machen lassen. Rankommen lassen.” Das sind Sätze, die ich höre. Ich würde nicht sagen, dass sie von besonderer Resignation zeugen. Eher von niedrigen Erwartungen.

Mit der Erinnerung an den sogenannten Jahrhundert- oder Katastrophenwinter 1978/79 ist vielen in der Lausitz wieder klar geworden, wie ungesund die Fixierung auf die Kohle war, wie einseitig. Die Identifikation mit dieser Industrie ist nach wie vor groß, aber niemand würde heute mehr die Gleichung aufstellen: Lausitz ist gleich Kohle. Lausitz ist auch nicht gleich Wolf, oder Lausitz: Oh Gott, oh Gott, oh Gott!

Ich habe jemanden gefragt, über diesen Winter. Wie das war mit der Kälte. Ob Menschen in ihren Wohnungen erfroren sind, nachdem mit den abgeschalteten Kraftwerken ja auch die Wärmeversorgung abbrach. “Wieso?”, war die Antwort. “Wir hatten doch Öfen. Und Holz.” Zwei Dinge, die ich wieder gelernt habe: wie naiv ich bin. Und dass die Leute sich hier zu helfen wissen. Sich zu helfen wissen müssen.

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