/Brexit: Im Tollhouse

Brexit: Im Tollhouse

Ist es noch Politik, oder ist es schon ein Zermürbungskrieg, was sich
zwischen der britischen Premierministerin Theresa May und dem Parlament in Westminster
abspielt? “Oh, es hat etwas von Krieg”, antwortet Victoria Prentis. Die Abgeordnete der
regierenden Konservativen Partei, der Tories, ist durchgefroren. Sie eilt in diesen Tagen
ständig durch den Parlamentspalast von Westminster, und für manchen Weg muss sie raus ins
eisige Freie. Jetzt braucht sie erst mal einen Tee. Mehr zur Tasse als zum Reporter gewandt,
ergänzt sie: “Und es ist ein bisschen ein Desaster.”

Vor ein paar Minuten hat die Premierministerin im voll besetzten Plenum des Parlaments, der Chamber, ihren sogenannten Plan B für den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union vorgestellt. Genauer gesagt hat sie lediglich etwas lauter begründet, warum es bei ihrem Plan A bleiben muss. May sagt es seit Monaten immer und immer wieder: Entweder das Parlament schluckt den Deal, den sie mit der EU verhandelt hat, oder es könnte am 29. März zum ungeregelten Austritt des Landes aus der EU kommen – mit allen kaum kalkulierbaren Folgen.

Die Regierung schlägt dem Parlament wieder und wieder dasselbe vor, das Parlament lehnt es wieder und wieder ab – wie lange soll das so weitergehen? “Möglicherweise bis zum 28. März”, antwortet Victoria Prentis. Das wäre unmittelbar vor dem Austrittsdatum. May sei keineswegs flexibel, sagt Prentis. “Sie ist ein
tough cookie”,
eine Frau, an der man sich die Zähne ausbeißt.

Prentis, 47, eine gelernte Rechtsanwältin aus Oxfordshire nordwestlich von London, ist in mancher Hinsicht ein Spiegelbild der Premierministerin. Wie May hat Prentis beim Referendum 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt; wie diese sieht sie es seither als ihre Pflicht, den Brexit umzusetzen und zugleich Schaden von ihrem Land abzuwenden. Deshalb hat sie Mays Deal bislang unterstützt, vergeblich.

In einer Parlamentarier-Lounge in Westminster, wo gleich hinter den neogotischen Spitzfenstern die Themse fließt, berichtet Victoria Prentis von ihren zwei Prägungen. Sie sei in dem Glauben erzogen worden, dass die EU eine Kraft für Frieden und Wohlstand sei, und das glaube sie immer noch. Prentis erzählt von ihrem deutschen Brieffreund, von Sommerferien in Schwaben, von Besuchen in den Niederlanden, von ihrer Zeit als Erasmus-Studentin in Frankreich. Sie liebe Europa. “Aber Großbritannien liebe ich noch mehr.”

Es treibe sie immer noch zur Empörung, wenn sie daran denke, wie die anderen EU-Länder den damaligen Premierminister David Cameron hätten abblitzen lassen, als dieser vor dem Referendum Vorschläge für eine Reform der EU gemacht habe. “Von da an wusste ich, die Sache geht schief.” Prentis entschloss sich damals, ihre Laufbahn als Regierungsbeamtin aufzugeben und für das Parlament zu kandidieren. Nun ist sie eine von 650 Abgeordneten, die in diesen Wochen über das Schicksal ihres Landes entscheiden – und über das Ansehen der britischen Demokratie.

Westminster, eines der ältesten Parlamente der Welt, scheint der Welt gerade vorzuführen, wie eine bewährte Institution funktionellen Selbstmord begehen kann. Indem die Abgeordneten den Weg dafür eröffneten, über Verbleib oder Ausstieg aus der EU in einer Volksabstimmung zu entscheiden, hat sich das Parlament vom Souverän unsouverän machen lassen. Die Wähler haben ohne parlamentarischen Prozess eine Entscheidung getroffen, zu der es mit einem solchen Prozess wahrscheinlich nie gekommen wäre. Die Mehrheit der Abgeordneten wollte nicht aus der EU austreten. Seither nagt die Revolution der Volksabstimmung an der Institution der Volksvertretung. Man merkt es unter anderem an den Nerven der Abgeordneten. Auch an denen von Victoria Prentis.

“Hats off, strangers!” Am Morgen jedes Sitzungstages erschallt dieser gellende Ruf in der Central Lobby des Westminster-Palasts. Aus der runden, kathedralenartigen Halle geht es links ins Unterhaus, rechts ins Oberhaus ab. Die Aufforderung der Polizistin, alle Nichtparlamentarier mögen ihren Hut ziehen, gilt der Ehrerweisung für den Speaker, der nun, begleitet von einer Entourage von Männern in schwarzen Gewändern, durch die Lobby schreitet. Einer von ihnen hält das Mace in den Armen, eine Schmuckkeule, die die königliche Autorität symbolisiert. Die Regel, dass das Parlament ohne das Mace auf dem Pult des Plenums nicht tagen kann, gilt seit Hunderten von Jahren. Andere Regeln bröckeln dieser Tage.

Hits: 8