/Flüchtlinge: Die Folter, der Hunger, das Ertrinken

Flüchtlinge: Die Folter, der Hunger, das Ertrinken

Es sind die apolitischsten Zeiten seit Langem. Oder kennt
irgendjemand auch nur eine einzige politische Maßnahme, die verhindert, dass
auf den Meeren Menschen allein gelassen ertrinken? Ja klar, es wird Tag und
Nacht über nichts anderes mehr geredet als über die Flüchtlinge und wie man sie
sich um Himmels willen vom Hals halten kann. Aber getan wird nichts.

Ertrinken ist ein leiser Tod. Es ist nicht wie in den Filmen, wo mit den Armen geschlagen wird und es
laut ist. Die Lungen laufen mit Wasser voll, es gibt kein Rufen, es gibt nicht
genug Luft zum Schreien, irgendwann ist der Mensch vollgesogen mit Wasser, der
Körper krümmt sich, bevor er stirbt. Es ist, als ob der Mensch sich ein letztes Mal vor dem Leben
verbeugt, bevor er sinkt.     

Die Nachtsichtgeräte bleiben weiter auf die Meere
fokussiert. Mittlerweile kann man mit Satelliten vom All aus Schiffe orten. Das
Ertrinken geschieht live, aber ohne kommentierende Bauchbinde in den
Nachrichten, ohne Ticker, ohne Eil-Eil, es wird protokolliert, nebenher
gesendet, irgendwie bekommt man es mit, alle bekommen es mit. Es gibt
Zeugenschaft zuhauf. Aber es wird niemand mit allzu vielen Details belästigt.

Die dort sterben, sollen lebende Warnhinweise für die
folgenden Flüchtlinge sein. Aber sie haben
keine Namen. Wenn nicht für jeden, der auf der Flucht stirbt, ein Stein an der
Küste aufgestellt wird, wie soll man erkennen, dass dort gestorben wurde? Sie enden
als Zahlen, man liest “170 ertrunken”,  aber sie hinterlassen keine Spuren. Es gibt
keinen Friedhof. Solche Toten können nicht warnen, der Plan funktioniert nicht.
Auch deshalb nicht, weil das, wovor sie fliehen, noch größer, noch schlimmer
ist als Ertrinken. Nämlich so weiterleben.  

Was ist die Moral?

Es ist alles so unsinnig, auch wenn man bedenkt, dass jeder
nur ein Leben hat. Aus Nachrichten werden Menschen, wenn man sie als solche
erzählt. Wenn man ihnen eine Identität gibt, beschreibt, woher sie kamen, wessen
Tochter und wessen Sohn sie waren. Was sie im Brustbeutel auf der Flucht bei
sich trugen; als Trost, als Schutz, als Erinnerung. Was sie hinter sich ließen.
Wen sie hinterließen.

Und man lernt, was eine Kulturleistung ist. Kulturleistung
ist nämlich nicht immer nur etwas Edles. Eine Kulturleistung ist es auch, die
Welt für diese Toten nicht anzuhalten. Sich innerlich von diesem Geschehen
abgespalten zu haben und sich mit Redewendungen zu bewaffnen, die aus
Flüchtlingen Migranten macht. Sich in einer Sprache zu verstecken, die in
Folterlagern mit serieller Vergewaltigung sinnvolle Rückführungsmaßnahmen zu
erkennen vermag. Die libyschen Lager, aus denen diese Verlorenen fliehen und
in die sie mit europäischen Millionen alimentiert zurückgebracht werden, sind
im politischen, europäischen Sprachgebrauch sogar vom Auswärtigen Amt offiziell mit Konzentrationslagern verglichen worden, aber es bleibt eben alles aus, was
möglich wäre, um das zu beenden. Die Zusammenhänge, die Verstrickungen, die
Verantwortung und die Schuld werden nicht benannt. Das ist Kultur. Unser
inoffizielles Weltkulturerbe.

Was soll man an dieser Stelle für eine Moral verkünden? Das
muss jeder für sich entscheiden, was der Wendepunkt für ihn ist. Das Augenverschließen
vor diesem Leid funktioniert, wenn man in denen, die kommen, nicht sich selbst
erkennt. Wo man abgeschlossen ist, können Worte nichts mehr ausrichten. Wenn
man sich nicht erreichbar zeigt für die Not der Anderen und ansprechbar bleibt,
dann trennen sich hier die Wege.

Man kennt sie, die auf dem Schlachtfeld muskulöser Meinungen
fündig wurden und glauben, die wahrste Wahrheit gefunden zu haben. Wer aber in
diesen Tagen, bei denen es sich in Wirklichkeit auch schon um Jahre handelt,
immer mehr Fragen als Antworten hat, der sei getröstet: Das ist normal.

Wohin wird das alles führen? Das fragt man sich doch. Das
kann doch nicht ewig so weitergehen. Oder wird das so weitergehen? So
gnadenlos, so wirr und irr, so schäbig und alles in allem desaströs. Die unguten
politischen Kräfte sind derart vital, sie haben Jahrzehnte daran gearbeitet,
dass es jetzt, genau jetzt, genauso ist, wie sie es planten. 

Das war mal anders geplant

Nämlich dass die Politik in Anbetracht der Ertrunkenen schon
wieder so abwesend war, so abgestumpft, so leer. Man will sie mit dem
größtmöglichen Vorwurf belästigen und sagen, hier fehlt der Respekt vor dem
Leben, man weiß nicht, wie man es besser ausdrücken soll. Jedenfalls war da
nichts. Keine Träne. Niemand, der sagte: Zieht die Leichen aus dem Wasser, wir
lassen sie wenigstens als Tote zu und bestatten sie so, wie man Menschen
bestattet. Vorausgesetzt, man hat eine Vorstellung davon, was das ist, ein
Mensch.

Bald ist Europawahl und die deutschen Parteien – alle bis
auf die eine, die mit der wahrsten Wahrheit – streiten sich immer noch darüber,
wie man es schaffen könnte, das Gesicht zu wahren und gleichzeitig alles
abzuschaffen, was dieses Land für einige wenige Jahre edel aussehen ließ.

Das Entsetzen nutzt sich nicht ab, kann sich gar nicht
abnutzen, über diese selbstgefällige, vollgefressene Scheißeuropahaftigkeit.
Man will das in alle Sprachen übersetzen und es an den Mittelmeerküsten
verteilen lassen: “Kommt nicht, Flüchtlinge! Aus Angst vor euch stechen sie
sich hier gerade gegenseitig ab.” So war es doch. Paweł Adamowicz wurde in
Danzig erstochen, weil er sich dem Hass und der Zwietracht verweigerte. Und
sowieso passiert jeden Tag etwas, in Ungarn, in Polen, in Österreich. Das ist
jetzt das neue Europa, aber noch viel enttäuschender ist: Das ist jetzt das
neue Deutschland. Das war mal anders geplant.

Angesichts der bevorstehenden Europawahl muss doch mal
jemand aufstehen und das Minimalnötigste formulieren. Nämlich dass Schluss
sein muss mit dem lächerlichen Patrouillieren in den Parteiprogrammen. Diese
Politik ist nicht nur endlich, sie ist fertig. Sie ist wirklich fertig.

Realpolitik funktioniere anders, bekommt man zur Antwort.
Realpolitik?, fragt man zurück. Was ist denn das Gegenteil davon?
Science-Fiction-Politik? Die libyschen Lager, die Folter, der Hunger, die
Ertrinkenden, das ist real. Dies zuzulassen ist nicht Realpolitik, sondern gar
keine Politik.

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