/“Vor dem Fest” : Zu wahr, um schön zu sein

“Vor dem Fest” : Zu wahr, um schön zu sein

Ein Dorf in der Uckermark mit eineinhalb Neonazis, da horcht man zurzeit
natürlich auf. Einmal wegen der Neonazis; aber auch die Uckermark ist ja immer
ein Thema, als würde die Kenntnis der Region, die die Heimat der
Bundeskanzlerin ist, helfen, irgendwas besser zu begreifen. Aber darum geht es
dann gar nicht im Roman Vor dem Fest von Saša Stanišić, dessen Bühnenfassung,
inszeniert von Charlotte Sprenger, am Freitag am Thalia Theater Premiere hatte. Die Neonazis (eineinhalb deshalb, weil der eine Neonazi eine Freundin hat,
die nur ihm zuliebe mitmacht) sind an diesem Abend nicht mehr als das, was sie
auch in Wirklichkeit sind: eine völlig unbedeutende Randerscheinung. 

Interessant ist Vor dem Fest neuerdings aus einem ganz anderen Grund: Weil
der Autor, um ein Uckermark-Dorf-Porträt zu schreiben und dabei der Wahrheit so
nah wie möglich zu kommen, ein Dorf erfunden hat, und zwar: auf Basis einer
real existierenden Gemeinde. “Was ich gemacht habe, war eine stark
journalistisch aufgebaute Arbeit”, sagt Stanišić in einem im Programmheft
abgedruckten Interview. “Ich habe beobachtet, Interviews geführt, Menschen
getroffen, ich habe zugehört. Ich wollte wissen: Wie sind die Menschen zu dem
geworden, was sie sind? Daraus habe ich meine Protagonisten erschaffen. Ich
wollte nie eins zu eins die Wirklichkeit übertragen.”

Alle Figuren also sind
erfunden, aber nach Vorlage echter Menschen, und sie wirken wie aus der
Wirklichkeit herausgeschrieben.

Ähnliches hat, wie vielfach berichtet, in jüngster Vergangenheit ein
Mitarbeiter des Spiegels getan, mit verblüffend ähnlichen Mitteln, nur eben
mit anderem Auftrag und ohne darüber rechtzeitig Bescheid zu geben. Es waren,
wenn man so will, wirklichkeitsbasierte Erfindungen, die der vermeintliche
Reporter als Wahrheit verkauft hat, gut erzählte Klischees, und allen, die sie
ihm geglaubt haben (unter anderem die gesamte Branche), ist seit seiner
Entlarvung ziemlich blass um die Nase. 

Kein Klischee der Welt wäre so wild. Gerade deshalb kauft man Stanišić alles ab

Die Arbeit von Saša Stanišić unterscheidet sich davon gar nicht so sehr,
mindestens in einem Punkt dann aber doch, und dieser wirkt viel nebensächlicher,
als er eigentlich ist: Seine Erfindungen sind, obschon sie dies nicht im Ansatz
beanspruchen, viel näher an der Wirklichkeit. Denn hier passt auf den ersten
Blick gar nicht viel zusammen, die Menschen, die im fiktiven Fürstenfelde
leben, haben nur aufgrund von historischen Zufälligkeiten miteinander zu tun,
wäre das anders, wäre es nicht so. Aber jetzt haben sie eben miteinander zu
tun, und das ist genau die Reibung, aus der gute Romane entstehen können und
große Theaterabende wie dieser.

Kein Klischee der Welt wäre so wild. Hier
will überhaupt nichts Wahrheit sein, und gerade deshalb kauft man ihm alles ab,
weil es zwar vielleicht nicht wahr ist, aber wahrhaftig. 

“Mich hat die Provinz immer interessiert”, sagt Saša Stanišić im Programmheft, “ich bin gerne nicht in der Stadt. Ich bewege mich gern unter Menschen, die
sich für ein Leben entschieden haben.” Und weiter, noch so ein Riesensatz: “In
Städten ähnelt sich alles sehr stark, aber die Dörfer sind so individuell, so
verschieden.” 

Dann beginnt endlich das Stück, und wie in der Uckermark ist das erste, das
auffällt, der Horizont. Das Bühnenbild (Aleksandra Pavlović) besteht nur aus
Himmel und Weite: einer hellblauen Stoffbahn, über den Boden gespannt und am
Bühnenhimmel aufgehängt, unten ist sie der See, oben der tiefhängende Himmel. Vor dem Fest ist nicht das Porträt eines Dorfs, sondern aller Dörfer, und wer
auch nur ein Mindestmaß an Lebens- und Welterfahrung mitbringt in den
Zuschauerraum, der erkennt die Figuren auf der Bühne als so real wieder, dass
man zwischendurch immer mal wieder nicht sicher ist, worüber genau man jetzt
lacht: über die pointiert-präzise Performance der Schauspieler, über die in
ernstem Ton vorgetragenen Witzchen von Stanišić, über die Präzision, mit der
die Regisseurin für die Witzchen Bilder findet, oder über die Menschen, die die
Vorlage waren, und, in Falle von Letzterem, ob das wohl okay so ist.

Wenn man
unbedingt will, ist das das einzige, das man dem Abend vorwerfen kann: Dass er
dazu verleitet, über Menschen zu lachen, die einfach sind, wie sie sind, und
manchmal sind sie eben lächerlich. 

Die erste Szene: das Ensemble sitzt in einem gelben Kahn und betrauert den
Fährmann, der ertrunken ist, einer steht daneben am Mikrofon und singt im
Overall tonlos einen Schlager. Das ist die Ästhetik, in der sich der Abend
bewegt, genauso geht es weiter, und auch wenn am Premierenabend die Abläufe hier
und da ein wenig haken, sind es doch gerade das Tempo und die Präzision, die die
Arbeit der Regisseurin und des Ensembles besonders machen. In vielen Szenen ist
über die erzählte Handlung wie eine falsche Bildspur eine zweite gelegt, das
geht meistens gut und wirkt nur sehr selten so, als fürchte man, anders nicht
alles in zwei Stunden unterzubringen, was sich zu erzählen lohne. 

Hits: 39