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Wien: Faule Metropole, fleißiges Land?

Denkt der Wiener Sebastian Kurz an seine Heimatstadt, ist er um den Schlaf
gebracht. In der gesamten Donaumetropole würden immer häufiger Menschen in der Früh nicht mehr
aufstehen, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Gleichzeitig würden in mehr und mehr
Familien morgens nur noch die Kinder aus den Federn kriechen und zur Schule trotten. Überhaupt
wachse da ein Arbeitslosenheer heran, und überall in den Straßen würden Obdachlose
herumlungern. “Es ist keine gute Entwicklung”, erklärte der Bundeskanzler bei der
Regierungskoalition am Donnerstag der Vorwoche, “wenn immer mehr Menschen keine Arbeit haben
und von der Mindestsicherung leben müssen.” Merk’s Wien!

Die Hauptstadt der Republik, ein soziales Notstandsgebiet? Er sei “fassungslos”, entgegnete der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker, “dass der Bundeskanzler derart ausrastet und seine Bevölkerung beschimpft”.

Dabei war es der kämpferische Sozialdemokrat selbst, der den Schlagabtausch ausgelöst hatte. An jenem Donnerstag endete auch die Begutachtungsfrist für ein Regierungsvorhaben, durch welches das System der Mindestsicherung neu strukturiert und in einigen zentralen Punkten verschärft werden soll. Der Gesetzesentwurf sei “echt wahnwitzig”, erklärte Hacker in einer Pressekonferenz. Die Experten der Stadt hätten 17 potenzielle Verfassungswidrigkeiten beziehungsweise Widersprüche zu Bestimmungen des Europarechts aufgespürt. Der Regierung gehe es aber einzig darum, “das unterste soziale Netz” abzuschaffen. “Ohne umfassende Reparatur”, versprach Hacker, “werden wir dieses Gesetz in Wien sicherlich nicht umsetzen.”

Durch die massiven Widerworte musste sich die Regierung allerdings herausgefordert fühlen. Da hatte einer den diplomatischen Verhandlungsweg verlassen und vor den Augen des ganzen Landes dem Regierungschef den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen.

Sofort sah die Regierung den Rechtsstaat bedroht. Jeder Politiker habe sich an beschlossene Gesetze zu halten. Würden die Wiener hingegen die neue Regeln boykottieren, verstießen sie gegen die Verfassung, und dadurch wanderten die Kompetenzen automatisch von der Stadt zum Bund. Dadurch wäre Wien sozialpolitisch unter Kuratel gestellt.

Wie so häufig in sich anbahnenden Konflikten verlagerte die Regierung die Auseinandersetzung rasch auf eine monokausale Ebene, auf der sie sich stärkeren Zuspruch in der Bevölkerung verspricht. Im Fernsehen bekräftigte Kanzler Kurz seine gruselige Wien-Diagnose und fügte an: “Jeder zweite Mindestsicherungsbezieher ist ein ausländischer Staatsbürger.” Tatsächlich waren es zuletzt rund 54 Prozent. Vor allem mobilisierten nun die Freiheitlichen ihre Kampfmaschinen. Der blaue Klubobmann und Chef der Wiener Landesorganisation Johann Gudenus, ein Mann, der keinen Relativsatz zu kennen scheint, konstatierte eine “totale und grundsätzliche Oppositionspolitik” gegen die Bundesregierung: “Die rot-grüne Stadtregierung hat klargemacht, dass sie Wien als Weltsozialamt für Armutszuwanderer von überallher uneingeschränkt weiterführen will.” Und Vizekanzler Heinz-Christian Strache sah sich dazu berufen, den “rot-grünen” Stadtsenat anzuprangern, der “offensiv für ein Förderungsprogramm für tschetschenische Großfamilien eintritt”.

Im Duell der Zahlen werden statistische Werte frisiert und aufgebläht

Seit Tagen fliegen nun statistische Werte hin und her, werden Ziffern als Beleg für vermeintliche Mängel instrumentalisiert. Es werden Entwicklungen miteinander verglichen, die sich eigentlich gar nicht vergleichen lassen. Bei diesem Duell der Nummern wird kaum berücksichtigt, dass in der einzigen Großstadt des Landes ganz andere Faktoren zum Tragen kommen als im wesentlich kleiner strukturierten Rest Österreichs. Lieber werden Zahlen frisiert und aufgebläht, andere mit pompösen Relationen zum Verblassen gebracht.

Fristen etwa tatsächlich 15.000 Obdachlose auf Wiens Straßen ihr Dasein, wie das Kanzler Kurz behauptet hat? Die Statistik kennt nur “Wohnungslose”, bei denen es sich keineswegs um Leute ohne Dach über dem Kopf handelt, sonder meist um Menschen, die in betreuten Einrichtungen (2017 hatte die Wohnungslosenhilfe 11.000 solcher Fälle registriert), Frauenhäusern oder Asylwerberheimen untergebracht sind. Die Zahl der Obdachlosen, fand die Tageszeitung
Die Presse
heraus, könne am ehesten aus der Zahl der Notquartiere im Winter abgeleitet werden, wo derzeit 1400 Schlafplätze zur Verfügung stehen.

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