/Kommunikation: Der Pandabären-Irrtum

Kommunikation: Der Pandabären-Irrtum

Ein schöner Sommertag in Berlin. Auf dem Weg ins Büro
schiebe ich mein Fahrrad über den Bürgersteig einer
gepflegten Seitenstraße Richtung Ku’damm. Ein mittelalter Mann kommt mir entgegen. Er brüllt
mich an. Was hat er bloß? Anders als gewöhnlich radele ich doch gar nicht im
Slalom um rechtmäßig besorgte Charlottenburger
Bürger. Allmählich verstehe ich ihn, mindestens akustisch: Mein Frontlicht
flackert ihm grell entgegen und das erregt ihn aufs Äußerste.

Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".

Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von “10 nach 8”.
© Dagmar Morath

Nun, das ist Berlin, Menschen regen sich auf. Menschen
brüllen herum. Schlechte Laune muss verbreitet werden, wozu hat man sie sonst. Schöner Sommertag hin oder her.
Bemerkenswert ist also nicht sein Ausbruch, wohl aber dessen Begründung: “Die
Kinder”, schreit er, “denken Sie an die vielen kleinen Kinder, die Sie blenden!” Okay, es gibt keine Kinder auf diesem
Bürgersteig. Darauf muss ich ihn auch gar nicht erst
hinweisen. Es geht ihm, wie er unvermindert lautstark ergänzt, um jene Kinder, die von
meinem flackernden Licht geblendet werden könnten. Dessen es zu allem
Überfluss ja nicht einmal bedürfe, weil doch helllichter Tag sei.

Die im Konjunktiv ihrer Anwesenheit befindlichen Kinder,
der sie heraufbeschwörende Mann und ich, die Frau mit dem sinnfrei beleuchteten
Rad – gemeinsam bilden wir
mehr als die Summe unserer Absurdität. Unsere Zufallskonstellation ist Sinnbild eines Miteinanders, das sich heillos
in einem Stärke-Schwäche-Dualismus verkantet hat.

Vielleicht fühlt sich der Mann ja auch schwach und hilflos

Schwach, hilflos und damit natürlich unbedingt
schützenswert ist das Kind an sich. Es muss gar nicht präsent sein, um als
Mittel zum Zweck der Empörung zu dienen. Man muss
sein Leben, so die Logik dieses Mannes – und nicht nur seine – entlang eines
mal mehr, mal weniger naheliegenden Kindeswohles ausrichten. Weil Kinder ein
amtliches Recht darauf haben. Vielleicht fühlt sich der Mann, wie er so mittelalt und mittelreich wirkend die gepflegte Straße
entlangschlendert, ja auch schwach und hilflos. Vielleicht ist er weniger von
meinem Radlicht geblendet als von einer Welt, die
für ihn keinerlei Sichtschutz bereithält. An einer
solchen Hilflosigkeit allerdings wäre nichts amtlich.
Sein Problem. Und das muss er – Achtung, Küchenpsychologie – in die Eindeutigkeit
rückverlagern, hier also zu den Kindern. Den schwachen Kindern, oder wie der
Moderator Johannes B. Kerner sie während der ZDF-Gala Ein Herz für Kinder unablässig beschrieb: “Die Kleinsten der Kleinen”.
Mehr Diminutiv war nie.

Vermutlich weiß der mittelalte Herr auch ganz genau, warum
mein Radlicht am helllichten Tag eingeschaltet ist. Ja genau: Weil ich eine so
hektische wie überlastete Overachieverin bin. Mit viel zu vielen Terminen im sicher schicken Büro am
Ku’damm. Die vor- und
nachbereitet und pünktlich absolviert sein wollen. Weil ständig irgendein
Mensch oder ein Gerät oder ein Sachzwang irgendwas von Menschen wie mir will.
Vor lauter Bedienen, Abwehren oder Ignorieren an mich
gerichteter Imperative in meinem schicken Büro oder meinem sonstigen schicken
Leben, bin ich mir schlicht zu fein dafür, eine Fahrradlampe in den Griff zu
kriegen. Mehr Hybris war nie.

Ich und meinesgleichen sind nämlich ohnehin vor allem eins: selber schuld. Auch das ist amtlich.
Von wegen, wenn man die Hitze nicht aushält, soll man die Küche verlassen. Der
dem einstigen US-Präsidenten Harry S. Truman zugeschriebene Spruch wird seit
Jahrzehnten zyklisch herausgekramt und all jenen vor
den Latz geknallt, die dumm genug waren und sind, sich Dinge aufzubürden. Die,
noch dümmer, sich darüber erdreisten, in den ein oder anderen Zweifel oder gar
in die Schwäche angesichts der Bewältigung ebendieser Dinge zu geraten. Dinge,
um die sie vielleicht nicht einmal jemand gebeten
hat: Firmen gründen, Parteien führen, Kunst machen, Leistungssport ausüben,
Seenotrettung auf den Weg bringen, so was halt. Dinge jedenfalls, die die Sprücheklopfer niemals bereit
gewesen wären, sich anzutun. Nicht für alles Geld der
Welt. Und für gar keins schon mal erst recht nicht.

Der Angriff der Meinung auf die übrige Wahrheit hat
gedankliche und biografische
Vielfalt plattgemacht. Einzig der
Stärke-Schwäche-Dualismus ist platt genug, um das zu überleben
und unten als strahlender
Sieger herauszukriechen. Selbstbild und Fremdbild haben sich im Entweder-Oder eingerichtet. In die persönliche Lebensweise übersetzt,
bedeutet das die Entscheidung für wahlweise Überforderung oder Schonhaltung. In
die öffentliche Meinung übersetzt: Verachtung oder
Kitsch.

Gehe ich in die sprichwörtliche heiße Küche, also ins
Zentrum der Leistungsgesellschaft, kassiere ich dort im Zweifel statt Gehalt
oder Honorar Schmerzensgeld. Werde beneidet, verurteilt, gefürchtet, in jedem
Fall aber bewertet. Weil, genau: selber schuld. Und
wenn irgendwas schiefgeht: Heul doch!

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