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Neoliberalismus: Wo bleibt der demokratische Widerstand?

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Die Dinge laufen nicht
gut da draußen. O – das pfeifen inzwischen längst die Spatzen von
den Dächern, zwitschern die Info-Apps auf den Handys. Und egal, mit
wem ich rede: Jede und jeder denkt das. Spricht es aus. Egal, aus
welchem Milieu, welchem Berufsfeld er oder sie stammt, egal, worüber
wir sprechen, die weltpolitische Lage, die Stimmung im Land, die
Arbeitssituation, das liebeliebe Geld, die jeweilige Branche, das
Klima, die Zukunft: Es läuft gar nicht gut, es läuft eher ziemlich
schlecht, wird sogar immer schlimmer. Ich traue mich schon gar nicht
mehr, in die Zeitung zu schauen, die Nachrichten zu hören, die
Onlineticker zu öffnen, sagen alle. Und ich nicke. Täglich neue
Krisen, täglich neue Zuspitzungen, neue Hiobsbotschaften, neue –
Alternativlosigkeiten. Was soll man dagegen auch tun, heißt es dann.
Oder es steht allen ins Gesicht geschrieben. Ändern lässt sich
daran eh nichts. Infolgedessen findet man sich ab, hält irgendwie
durch, hält sich eben, so gut es geht, über Wasser, macht eben
einfach weiter, etwas gedimmt, etwas frustriert, etwas verzweifelt
vielleicht. Weitermachen – das Komplementärwort zur
Alternativlosigkeit.

Als junger Mann verliebte
ich mich in einen Gedichtband, der mich seither durchs Leben
begleitet. Er stammt aus dem Jahr 1975, ist von Rolf Dieter Brinkmann
und heißt Westwärts 1 & 2. Als Vorbemerkung zum
Buch bringt der Dichter eine Aufzählung. Sie beginnt so: “Die
Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter,
die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock-‘n’-Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier
macht weiter …”. Das geht so und ähnlich über zweieinhalb
eng bedruckte Seiten. Für mich war die Geste dieses Textes seinerzeit
sofort klar: Hier schreibt einer, der über das absurde Weitermachen
der Gesellschaft nicht nur Bescheid weiß, sondern es mit seiner
ganzen Existenz begreift, um sich als Schriftsteller gerade nicht
damit abzufinden, mit der Geste der Revolte dagegen anzudenken.
Anzuschreiben. Genau das wollte ich auch. Kritische Intelligenz
nannte man so etwas einmal. Es war die Zeit der internationalen
Studentenbewegung.

Später dann, vor 20
Jahren, verfasste ich einen Essay mit dem Titel Ohnmacht und
Anpassung. Zur materiellen und sozialen Situation des Autors heute.
Schon damals beschäftigte mich das um sich greifende
Marktdenken, das selbstverständlich auch vor der Kultur nicht Halt
machte, deren zunehmende Warenförmigkeit, die Rolle der Massenmedien
beim ideologischen Umbau des öffentlichen Lebens zur
Aufmerksamkeitsökonomie. Meinen Gedankengang entwickelte ich entlang
eines Goethe-Zitats, in dem Torquato Tasso über sein
Galeerensklavendasein als Hofdichter sinniert. “Die Auswirkungen
der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf die soziale Situation
der Künstler, den Stellenwert, die Qualität der Kunst, das wusste
Tasso ebenso wie Goethe, betreffen den substanziellen Kern aller
Kultur”, formulierte ich. “Dies gilt für den Feudalstaat und die
Marktgesellschaft verschieden, aber es gilt für beide. Dass die
Kunst als Job und Produkt sich immer mehr dem Dienstleistungsgewerbe
der Bedürfniserzeugungsindustrie angleicht, ist ein Politikum, das
eigentlich die ganze Gesellschaft angeht. Was sie verliert, wenn sie
ihre reflektierende Tradition nicht mehr wahrnimmt, ist der Spiegel,
in dem sie sich erkennen kann, diese andere, zweite, mit eigenen
Spielregeln ausgestattete Welt, die sich auf Dauer nicht vermarkten
lässt, ohne sie zu vernichten oder in der dann nur die
Galeerensklaven sich noch kennen.”

Heute zeigen sich die
Auswirkungen dieser durch die digitale “Revolution” noch einmal
exponenziell gesteigerten Entwicklung in allen kulturellen Segmenten
des gesellschaftlichen Zusammenlebens unübersehbar und schroff: etwa
in den medialen Strukturen, im politischen “Stil”, im
Bildungsbegriff, im allgemeinen Kulturverständnis. Überall stehen
ökonomische Effizienz und emotionale Überrumpelung im Vordergrund,
überall geht es um die Ausschaltung kritischer Intelligenz im Dienst
sogenannter Marktkompatibilität. Und der Prozess des Wandels ist
noch nicht zu Ende. Die ökonomischen Sachzwänge in der
globalisierten Welt machen ungebremst weiter, die
Alternativlosigkeit, wird behauptet, soll immer noch alternativloser
werden. Gestützt aber wird diese Doppeldynamik weiterhin von der
alten neoliberalen Doktrin, die in den Neunzigerjahren unter anderem
durch die neue Sozialdemokratie von Tony Blair und Gerhard Schröder endgültig salonfähig gemacht wurde. Seit mindestens einem
Vierteljahrhundert behauptet sie, entfesselte Märkte gereichten der
Welt zum Wohl.

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