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Lawinengefahr: Abseits der Pisten

Einmal frischen Schnee befahren, das ist der Traum vieler Skifahrer und
Snowboarder. Doch abseits der überfüllten planierten Pisten muss man mit einem Risiko rechnen:
dem einer höheren Lawinengefahr. Im österreichischen Lech am Arlberg wagten sich am Samstag
vier Skifahrer auf eine der sogenannten Skirouten – das sind zwar markierte, aber meist nicht
präparierte Abfahrten. Sie wollten trotz aller Warnungen die zurzeit gesperrte Abfahrt “Langer
Zug” bezwingen, eine der steilsten Strecken überhaupt in den Alpen. Dabei wurden sie von einer
Lawine überrollt; drei von ihnen konnten nur noch tot geborgen werden. Der vierte wird
weiterhin vermisst.

Die erste Frage, die sich stellt: Wie leichtsinnig agierten die vier Deutschen? Immerhin hatten sie sich nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen ins Abenteuer gewagt. Sie trugen Notfallausrüstung mit sich: Peilsender für Verschüttete, Lawinenschaufeln, Sonden für die Suche im Schnee und Rucksäcke mit Airbags, die bei einem Lawinenabgang dafür sorgen können, dass die Skifahrer nicht zu tief verschüttet werden.

Die vier Skifahrer waren sogenannte Freerider. Diese suchen, statt auf gewalzten Pisten herumzukurven, lieber auf unpräparierten Routen den Weg ins Tal. Normalerweise seien Freerider gut über die drohenden Gefahren aufgeklärt, sagt Anika Frühauf von der Universität Innsbruck. Die Sportwissenschaftlerin untersucht deren Verhalten im Vergleich zu dem normaler Pistenfahrer. Oft informierten sich Freerider vorher über die Strecken und mögliche Lawinengefahren.

Der “Lange Zug” in Lech war am Unfalltag gesperrt, für die Lawinengefahr war die Warnstufe drei (Maximum: fünf) ausgegeben worden. Die vier Skifahrer setzten sich also einer “erheblichen Gefahr” aus und riskierten zusätzlich auch noch eine Strafe: Wer auf gesperrten Routen unterwegs ist, dem drohen der Entzug des Skipasses sowie eine Geldstrafe.

Frühauf vermutet, dass die Verunfallten sich einer Lawinengefahr bewusst waren, schließlich trugen sie die Notfallausrüstung: “Die Gefährlichkeit der Abfahrt aber hatten sie wohl unterschätzt.” Sehnten sie sich gar nach dem Risiko? Bekannt ist, dass Freerider statistisch stärker gefährdet sind, sich zu verletzen oder zu sterben, als normale Pistenfahrer. Außerdem hat die Wissenschaftlerin herausgefunden, dass die meisten Skifahrer sich im Moment der Abfahrt sicher fühlten – als hätten sie alles unter Kontrolle. Bei Freeridern falle besonders auf, dass sie dieses Gefühl im Alltag behielten. Egal ob sie nun in einer Klausur steckten oder einen Vortrag hielten: Sie fühlen sich auch sonst Herausforderungen gewachsen. Man könnte auch sagen: Sie haben ein größeres Selbstvertrauen. Und das motiviert sie womöglich, auch mal eine gefährliche Piste runterzubrettern. Ob sie dabei aktiv die Gefahr suchen, lässt sich allerdings nicht sagen. Frühauf gibt zu bedenken, dass die Lust aufs Risiko keineswegs die einzige Motivation darstelle: “Es macht vielen einfach mehr Spaß, auf frisch gefallenem Schnee zu fahren.”

Die nächste Frage, die sich stellt: Fühlt sich ein mit Sonde und Airbag top ausgerüsteter Fahrer so sicher, dass er womöglich ein zu hohes Risiko eingeht? Auch diese Vermutung ist empirisch nicht belegt. Beschrieben wurde der Zusammenhang zwischen Ausrüstung und Risikobereitschaft vor allem bei Radfahrern: In den vergangenen Jahren erschienen zahlreiche Artikel, die behaupteten, Radfahrer mit Helm führen unvorsichtiger. Die dazu fast immer zitierte Studie basiert allerdings auf nur 80 Versuchsteilnehmern. Eine ähnliche Untersuchung mit Skifahrern konnte keinen Unterschied zwischen Helm- und Nicht-Helmträgern feststellen.

Fakt ist, dass Lawinen trotz aller Ausrüstung hochgefährlich bleiben. Was die Technik massiv erhöht, ist die Wahrscheinlichkeit, nach einem Unfall gefunden zu werden. Anders als beim Airbag im Auto lösen Skifahrer den Lawinenairbag selber aus. Der gefüllte Luftsack vergrößert ihr Volumen – wodurch vom Prinzip her dasselbe passiert wie in einer Müslipackung. In der sortieren sich durch Rütteln und Schütteln kleinere Stücke nach unten und größere nach oben. In einer Lawine soll der Airbag also dazu führen, dass die Skifahrer weiter oben landen und Helfer nicht so tief graben müssen, sodass die Opfer eher an die Luft gelangen.

Der Airbag reduziert das Sterberisiko Verschütteter von 22 auf 13 Prozent. Aufgeblasene Airbags verhindern also die Hälfte der Todesfälle. Es komme laut Frühauf jedoch auch auf die Umgebung, die Größe und die Beschaffenheit einer Lawine an: Schwerer Schnee drückt die Menschen eher nach unten. Ob die Lawinenart das Überleben der deutschen Skifahrer verhindert hat, ist unklar. Sie hatten es aber geschafft, ihren Airbag zu aktivieren.

Die Überlebenschance hängt am Ende im Wesentlichen davon ab, wann ein Opfer gefunden wird. Spätestens nach einer halben Stunde sinkt sie rapide. Das bedeutet auch, dass für den vierten, am Dienstag noch immer nicht gefundenen Skifahrer kaum Hoffnung besteht.

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