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Zukunft der Politik: Die Ohnmacht der Regierenden

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron wird das Jahr 2018 wohl
kaum in guter Erinnerung behalten. Gerade als seine angekündigte Reformagenda Fahrt
aufzunehmen begann, tauchten aus dem Nichts die Gilets Jaunes auf und legten ein paar Wochen
lang das Land lahm. Das sichtlich vor Schock erstarrte Staatsoberhaupt musste seine Pläne
wieder zurücknehmen und versuchte, mit ein paar aus der Hüfte geschossenen Maßnahmen wie der
Anhebung des Mindestlohns die Gemüter zu beruhigen. Bislang jedoch vergeblich.

Hinter den Gelbwesten steht keine Organisation. Sie haben keine erkennbare innere Struktur,
keine Anführer, nicht einmal so etwas wie einen Sprecher und keine Spur von Programm. Über die
vielfältigen Wünsche für bessere Lebensbedingungen hinaus gibt es nur eine echte politische
Forderung, nämlich die nach einem
Référendum d’initiative citoyenne, einem Instrument
zur verbesserten Bürgerbeteiligung. Die Idee ist im Detail noch nicht ganz durchdacht, aber
die Botschaft an die hohe Politik lautet unmissverständlich: Wir wollen selbst bestimmen.

Jenseits des Ärmelkanals hat sich Großbritannien im Streit um den Brexit in eine völlig
ausweglose Situation hineinmanövriert. Premierministerin Theresa May, ihre Regierung und das
House of Commons haben jeden Handlungsspielraum verloren, denn keine einzige der theoretisch
möglichen Optionen rund um den Brexit findet eine Mehrheit. Deshalb fordert eine wachsende
Gruppe von Persönlichkeiten, unter ihnen eine Reihe von Wissenschaftlern sowie der Erzbischof
von Canterbury und die Oberrabbinerin Laura Janner-Klausner: Übergebt die Sache einem
Bürgerforum, das in ruhiger Diskussion eine Lösung erarbeitet, mit der alle irgendwie leben
können. Ausdrücklich wird dabei die Citizens’ Assembly Irlands als Vorbild genannt. Dieses
innovative Forum aus Nicht-Politikern schaffte es vor zwei Jahren, den jahrelangen Kulturkampf
um die Abtreibung in der katholischen Inselrepublik zu einem friedlichen Ende zu bringen.

Zwei Beispiele für ein Phänomen, das die Politik in naher Zukunft gründlich verändern wird:
Immer öfter werden politische Veränderungen nicht von Ministerien oder Parlamenten in Gang
gesetzt, sondern werden außerhalb des Systems angestoßen: auf der Straße, in der
Zivilgesellschaft oder überhaupt gleich im Internet. So lautet eines der zentralen Ergebnisse
der
Arena Analyse 2019
– konstruktive Politik. Diese Studie, die auf
Expertenbefragungen beruht, wird seit 2006 jedes Jahr vom Wiener Beratungsunternehmen Kovar
& Partners in Zusammenarbeit mit der
ZEIT
und der Tageszeitung
Der
Standard

durchgeführt. Ziel ist es, kommende Trends aufzuspüren und ihre Hintergründe
auszuleuchten. Insgesamt wurden dafür Tiefeninterviews und schriftliche Beiträge von rund 50
Expertinnen und Experten ausgewertet.

Die Voraussage, die Citoyens würden verstärkt aufbegehren, kommt überraschend, trotz der
einleuchtenden Beispiele, die Macron und May liefern. Erlebt die Politik nicht gerade eine Ära
der starken Männer, deren Lieblingsbegriff “durchsetzen” lautet und die stolz darauf sind,
angefeindet zu werden? Sachdebatten halten sie für einen destruktiven Zeitvertreib von
Eliten.

Vordergründig ja, meinen die
Arena Analyse-Experten, doch lässt sich gleichzeitig
eine Gegenbewegung beobachten, von der eine viel nachhaltigere Wirkung erwartet werden kann.
Die kraftmeierische Rhetorik eines Trump, Bolsonaro, Erdoğan, Orbán und wie sie alle heißen
mögen, facht in Wahrheit die Aktivitäten der Zivilgesellschaft zusätzlich an, weil hinter den
Macher-Posen allzu schnell deutlich wird, dass die eigentlichen Probleme weiter ungelöst
bleiben. Klimawandel, Globalisierung und die Angst vor dem Verlust des Jobs an einen Roboter
lassen sich nicht so einfach durch markige Tweets verscheuchen. Schließlich haben selbst
Regierungen, die nicht den Verlockungen des Populismus erlegen sind, schwer genug damit zu
kämpfen, dass die moderne Welt erstens kompliziert und zweitens eng vernetzt ist.

Komplexe Fragen vertragen keine simplen Antworten, und Entwicklungen von weltweiter Tragweite
können nicht durch Abschottung und Rückzug in die eigene Nation gelöst werden. Vor allem aber
genügt es nicht, dass Pläne gut durchdacht und rational klug sind, sie müssen auch bei den
Betroffenen richtig ankommen. Genau diese breite Akzeptanz fehlt sowohl dem französischen
Reformprojekt als auch den Brexit-Plänen.

Vor diesem Hintergrund können zornige Straßenblockaden und Bürgercafés als unterschiedliche
Erscheinungsformen des jeweils gleichen Verlangens nach Mitbestimmung gelesen werden.
Bemerkenswert an den Gilets Jaunes ist die Tatsache, dass sie sich tatsächlich völlig spontan
in die Politik einzumischen begannen. Insofern stehen sie in einer Linie mit Bewegungen wie
Occupy einerseits oder #MeToo andererseits. Der britische Politologe und Ex-Diplomat Carne
Ross hat dafür den Begriff
leaderless revolution
geprägt. Solche Bewegungen sind
typische Kinder unserer Social-Media-Ära. Nur dank der Allgegenwart des Internets können
einzelne markante Aktionen in kurzer Zeit so viele Nachahmer an völlig unterschiedlichen Orten
finden, dass damit gewissermaßen eine Phasenverschiebung im politischen System bewirkt
wird.

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