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Wohnungslosigkeit: Psychisch krank und auf der Straße

Herr B., der Mitte der Siebzigerjahre geboren wurde, wuchs als einziges Kind bei seiner Mutter und deren Eltern in Hessen auf. Herr B. hat keine Berufsausbildung absolviert. Er sei nach Schulende zu Hause “rausgeflogen”. Danach habe er mehr als ein Jahrzehnt wechselnd auf der Straße, in eigener Wohnung oder in Einrichtungen der Jugendfürsorge verbracht. Später in Süddeutschland habe er teils auf der Straße, teils in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, teils in Einrichtungen für Menschen mit psychischen Störungen gelebt. Dabei wurde eine Schizophrenia Simplex diagnostiziert, daneben in der Vorgeschichte Alkohol- und weitere Substanzabhängigkeiten, weiterhin eine antisoziale Persönlichkeitsstörung.

Dieser gekürzte Fallbericht stammt aus der Seewolf-Studie, einer Studie über die Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Wohnungshilfe München. Und er legt eines nahe: Psychische Krankheit und Obdachlosigkeit hängen miteinander zusammen. Aber wie genau? Sind Obdachlose häufiger psychisch krank als andere Menschen? Und wenn ja, macht das Leben auf der Straße sie krank oder landen sie erst auf der Straße, weil sie psychisch krank sind?

Tatsächlich ist wenig über die psychischen Leiden Wohnungsloser bekannt. Das beginnt schon damit, dass man nicht einmal genau weiß, wie viele Wohnungslose es in Deutschland überhaupt gibt. Zentrale Statistiken gibt es nicht, einzig die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) gibt Zahlen heraus. Diese groben Schätzungen kommen auf 860.000 Menschen, die 2016 ohne Wohnung in Deutschland lebten – Tendenz steigend (siehe Grafik unten). Die allermeisten dieser Menschen sind in Wohnungen oder Heimen von sozialen Hilfseinrichtungen untergebracht. 52.000 Menschen jedoch, so schätzt die BAG W, leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. Tatsächlich überwiegend Männer. Allerdings gibt es auch zunehmend wohnungslose Frauen, eine von vier Personen, die Hilfe benötigen, sind wohl weiblich. Damit sind Frauen keineswegs nur Begleiterinnen obdachloser Männer, wie es seit Jahrzehnten oft falsch wahrgenommen wurde.

Auch wie viele davon psychisch krank sind, ist schwer herauszufinden. Studien dazu sind rar und nicht repräsentativ. Zu den wenigen ausführlichen, die es zum Thema in Deutschland gibt, zählt die Seewolf-Studie. Sie untersuchte, mit welchen psychischen Problemen 223 Bewohnerinnen und Bewohnern von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in München, Menschen wie der eingangs erwähnte Herr B. also, zu kämpfen hatten und welche Lebensumstände dazu geführt hatten, dass sie obdachlos wurden (Seewolf-Studie: Bäuml et al., 2017).

Das Ergebnis: 93 Prozent der Befragten, also 208 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, waren in ihrem Leben schon einmal psychisch krank gewesen. 74 Prozent waren den Ärztinnen und Ärzten zufolge sogar aktuell behandlungsbedürftig. Zum Vergleich: In der Allgemeinbevölkerung sind es rund 50 beziehungsweise 28 Prozent. Etwa ein Drittel der Hilfsbedürftigen gab an, aus Mangel an Geld wohnungslos geworden zu sein. Knapp ein Fünftel hatte kurz zuvor Mitbewohner verloren – etwa durch eine Trennung oder den Tod von Lebenspartner oder -partnerin – und konnte seine Wohnung nicht mehr allein bezahlen.

Häufiger antisozial und narzisstisch

Die Befragten unterschieden sich aber auch psychisch deutlich von anderen Menschen, sagt Josef Bäuml, Psychiatrie-Professor am Klinikum rechts der Isar und Leiter der Studie: “Wir haben festgestellt, dass mehr als die Hälfte mit einer oder mehreren Persönlichkeitsstörungen leben, von denen wiederum mehr als 40 Prozent die Kriterien für das Cluster B erfüllen.” Das heißt, sie verhalten sich häufig antisozial, narzisstisch, leiden unter starken emotionalen Schwankungen oder wirken auf andere extrem egozentrisch. Im Bevölkerungsdurchschnitt macht diese Gruppe nur einen kleinen Teil von etwa zwei Prozent aus.

Hinzu komme, dass einige von ihnen möglicherweise schon mit einem Handicap ins Leben gestartet seien. “Der Durchschnitts-IQ in der Seewolf-Gruppe lag bei 84”, sagt Bäuml, also deutlich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt von 100.

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