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Verfassungsgerichtshof: Die Hüter der Grundrechte

Der nächste brisante Fall für den Verfassungsgerichtshof nimmt bereits
Gestalt an. Nach den Plänen der Regierung sollen bei der Reform der Mindestsicherung vorzeitig
aus der Haft entlassene Straftäter, die zu mehr als sechs Monaten Gefängnis verurteilt waren,
bis zum regulären Strafende keine Mindestsicherung mehr erhalten. Kommt es zu solch einem
Beschluss im Parlament, dann wird die Regelung wohl vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH)
landen, weil sie im Konflikt mit dem Gleichheitsgrundsatz stehen dürfte. Es wäre dies ein
weiteres Puzzlestück in einer Serie jüngster Reformen, die rasch vor dem Höchstgericht
landeten.

Zuletzt hat der Gerichtshof mehrere Regierungsprojekte als verfassungswidrig qualifiziert und
aufgehoben. Damit wird die Rolle des Verfassungsgerichts in der politischen Arena prominenter,
und auch die Frage der Richterbesetzungen erhält noch größere Brisanz.

Nach Jahrzehnten des Ausbaus der Grundrechteordnung erlebt Österreich seit einigen Jahren –
durchaus im europäischen Trend – eine Phase des Rückbaus von Menschenrechten und eine
Infragestellung rechtsstaatlicher Errungenschaften.

Der rechtsstaatliche Motor stottert seit Jahren. Die repressive Seite des Staates tritt
stärker hervor und bedeutet eine Schwächung der Bürgerrechte. Man denke nur an die vielen
Überwachungsmaßnahmen. Angetrieben wird diese Schwächung des Grundrechtesystems und der
Rechtsstaatlichkeit einerseits vom autoritär orientierten Rechtspopulismus, andererseits – und
schon länger – von einer repressiven Polizei- und Strafrechtspolitik infolge der
islamistischen Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center. In Österreich hat dieser
Prozess durch die populistische Instrumentalisierung der Fluchtbewegung ab 2015 an Dynamik
gewonnen. Seither werden die in der Genfer Flüchtlings- und Menschenrechtskonvention gewährten
Menschenrechte offen infrage gestellt. Im Fremdenrecht überschreitet der Staat immer häufiger
die rote Linie, bei Sozialleistungen werden schwache Personengruppen wie Migranten, aber auch
Haftentlassene diskriminiert.

Viele dieser Entwicklungen haben sich seit einigen Jahren abgezeichnet. Die Regierung von
Sebastian Kurz beziehungsweise einzelne Landesregierungen, an denen die FPÖ beteiligt ist,
scheut vor selbstbewusst vorgetragenen Grenzüberschreitungen in Verfassungsfragen nicht
zurück.

Nun kann der Gesetzgeber, das Parlament, nicht völlig frei agieren. Die österreichische
Verfassung sieht vielmehr, ähnlich anderen demokratischen Rechtsstaaten, ein System der Checks
and Balances vor. Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit kontrollieren einander
wechselseitig, keine Institution verfügt über uneingeschränkte Macht. Die Kontrolle der
Gesetzgebung ist in erster Linie Sache des Verfassungsgerichtshofs. Er überprüft die
Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Seit Antritt der Regierung Kurz hat der Gerichtshof bereits
mehrere Gesetzesprojekte oder neue Verwaltungspraktiken, wie zuletzt den Entzug
österreichischer Staatsbürgerschaften beim Verdacht einer Doppelstaatsbürgerschaft,
gestoppt.

Im österreichischen politischen System hat die jeweilige Regierung eine starke Rolle. Sie ist
es in der Regel, die dem Parlament Gesetzesvorschläge übermittelt und diese dort mittels ihrer
Mehrheit und eines strikt gehandhabten Clubzwangs durchboxt. Das Selbstbewusstsein der
Mandatare ist nicht übermäßig ausgeprägt; die ÖVP-Fraktion stimmte innerhalb kurzer Zeit
zuerst für ein strenges Rauchverbot in der Gastronomie, nach dem Regierungswechsel jedoch
wieder dagegen. Die Regierung Kurz hat die Diskussion über einige Regierungsvorschläge de
facto ausgehebelt, indem sie die Gesetzesentwürfe nur binnen ganz kurzer Fristen begutachten
lässt.

Zudem hat der ehemals renommierte Verfassungsdienst der Regierung durch seine Verlagerung vom
Bundeskanzleramt ins Justizministerium an Einfluss verloren. Er war bisher eine angesehene
Stimme in Verfassungsfragen, nunmehr spielt er kaum mehr eine Rolle in der politischen
Willensbildung. All dies erleichtert die rasche Beschlussfassung von Gesetzen, die im
Spannungsfeld zu Verfassung und Grundrechten stehen. Die Verwaltung ist zur Umsetzung der
einmal beschlossenen Gesetze verpflichtet. Die Neigung, Bedenken gegen eine politisch
erwünschte Vorgangsweise zu äußern, ist in einer von Obrigkeitshörigkeit gekennzeichneten
Verwaltung wenig ausgeprägt.

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