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Pendelverkehr in Tessin: Nichts geht mehr

Es ist sieben Uhr früh. Von der Grenze zu Italien staut sich der Verkehr
in Richtung Mendrisio bereits auf sechs Kilometern. “Eine Stunde Stau pro Tag = 30 verlorene
Arbeitstage im Jahr”, steht auf Plakaten am Straßenrand. Und die Lösung folgt sogleich: “In 26
Minuten von hier nach Lugano – im Zug”.

Davon können Autofahrer nur träumen. Zum Beispiel die Angestellten der Schreinerei Pirmin Murer in Mendrisio. Einige Teams sind an diesem Morgen bereits unterwegs auf Montage. Andere beladen noch ihre Transporter. In der Werkstatt läuft die Produktion. Das Tessiner KMU bietet Schreinerarbeiten nach Maß. 35 Frauen und Männer fertigen Türen und Möbel, montieren Fenster- und Rollläden. Das Geschäft läuft gut, deshalb wollte Murer ausbauen, am liebsten am Firmensitz in Mendrisio. Doch das hätte sich nicht gelohnt.

“Tag für Tag verloren wir Arbeitszeit im Stau”, sagt Murer und rechnet vor: “Fünf oder sechs Teams mit je zwei Mitarbeitenden. 40 Minuten, wenn es gut ging, oder zwei Stunden oder gar einen halben Tag. Mindestens 150 Stunden im Monat.” Darum eröffnete er vor drei Jahren in Taverne nördlich von Lugano eine Außenstelle. So stecken seine Mitarbeiter nicht im Stau und sind näher bei den Kunden.

Die Schreinerei Murer ist nur eines von unzähligen Unternehmen, die unter dem täglichen Verkehrschaos im Südtessin leiden. Nach der Eröffnung des letzten Autobahnteilstückes vom Gotthard bis Chiasso im Jahre 1986 hat sich das Tessin tiefgreifend verändert. Die Zahl der Einwohner stieg innert drei Jahrzehnten um 77.000 auf gut 350.000. In jener Zeit entstanden 52.000 neue Arbeitsplätze, und es kamen 30.000 Grenzgänger neu hinzu. Heute pendeln 65.000 Italiener zur Arbeit in die Schweiz.

Tag für Tag queren 150.000 Fahrzeuge die schweizerisch-italienische Grenze im Südtessin, und in neun von zehn Fahrzeugen sitzt nur eine einzige Person.

Also, was tun – und wo beginnen?

Für Schreinermeister Murer ist die Sache “ganz einfach: Es sind zu viele Autos unterwegs”. Das weiß auch die Tessiner Kantonsregierung und versucht die Autopendler zum Umstieg auf die S-Bahn zu bewegen, indem sie den Gemeinden verbietet, Gratis-Parkplätze anzubieten. In einigen Orten werden die Parkplätze gleich ganz abgeschafft; allein in Mendrisio sind in den vergangenen Jahren 770 verschwunden.

Auch KMU-Chef Murer engagiert sich. Er versucht seinen Angestellten das Car-Sharing schmackhaft zu machen. Auf einer Handy-App wird angezeigt, welche Personen wann wohin unterwegs ist und wie viele freie Plätze sie im Auto hat. Eine gute Sache, findet Pirmin Murer – eigentlich. “Aber wenn am Bau noch eine halbe Stunde fehlt, bis eine Montagearbeit abgeschlossen ist, oder wenn im Büro eine Offerte noch am gleichen Tag rausgehen muss, dann hängt man diese halbe Stunde eben an. So lange will der Car-Sharing-Kollege aber nicht warten.” Das Interesse an Fahrgemeinschaften sei in seiner Firma nahe null.

Um den Pendlerverkehr weg von der Straße und auf die Schienen zu bringen, braucht es denn auch bessere Angebote. Eines davon ist die grenzüberschreitende S-Bahn-Linie von Mendrisio nach Arcisate. Die Linie wurde vor einem Jahr eröffnet, und der Erfolg übertrifft alle Erwartungen.

Aber auf den Straßen herrscht noch immer Stau. Das Wachstum des Straßenverkehrs ist 2017 erstmals abgeflacht. Nicht aber im Südtessin, da stieg es weiter an.

Dass die Leute trotz neuer S-Bahn-Linie weiter mit dem Auto unterwegs sind, liegt auch daran, dass die Anschlüsse nicht funktionieren. Viele Pendler haben keine Busverbindung, die sie von ihrem Zuhause zum Bahnhof bringt, und sogenannte Park-and-Ride-Anlagen fehlen oft. Deshalb benutzen die Einwohner im Mendrisiotto für gerade mal fünf Prozent ihrer Fahrten den öffentlichen Verkehr. Bis 2030 soll dieser Anteil auf sieben Prozent ansteigen. Zum Vergleich: Im Kanton Zürich werden bereits heute 20 Prozent aller Wege mit dem ÖV zurückgelegt.

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