/Nikotinsucht: Der Anfang vom Ende

Nikotinsucht: Der Anfang vom Ende

Die ersten dreizehn Jahre meines Lebens war ich Nichtraucher. Dann war ich dreißig Jahre lang Raucher. Am 31. Mai 2018 habe ich meine letzte Zigarette geraucht.

Was bin ich jetzt?

In den vergangenen sieben Monaten habe ich eine Art Tagebuch geschrieben, eigentlich waren es vier Tagebücher: ein Raucher-Tagebuch, ein Nichtraucher-Tagebuch, ein Aufhör-Tagebuch, ein Anfang-Tagebuch. Und irgendwo in meinen Aufzeichnungen steht bestimmt, wie das geht, das mit dem Aufhören. Vielleicht ist es eine Art versteckte Formel, die ich selbst nicht erkenne.

Und vielleicht habe ich ja auch gar nicht mit dem Rauchen aufgehört – vielleicht mache ich nur eine Pause, und es geht jetzt darum, dass diese Pause so lang wird, wie es möglich ist. Und dann, irgendwann, fange ich wieder an zu rauchen. Oder auch nicht.

31. Mai 2018
Ich saß auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette. Es ging mir gut, ich hatte alles erledigt, was ich mir für den Tag vorgenommen hatte, ich freute mich auf den Freitag, auf das Wochenende. Ich war mit meinen beiden besten Freunden zum Essen verabredet, wir hatten uns seit Wochen nicht gesehen. Es war der einzige Termin in den kommenden drei Tagen, ansonsten gab es nichts zu tun, und das Leben fühlte sich hier, auf diesem Balkon, genau richtig an. Ich zog an meiner Zigarette, inhalierte den Rauch tief in meine Lungen und schloss die Augen. Ich dachte an nichts, alles war jetzt, in diesem Moment, ich stieß den Rauch durch die Nase wieder hinaus in die Frühlingsluft. Die Zigarette drückte ich in dem silbernen Aschenbecher aus, den mir Kollegen zum Geburtstag geschenkt hatten. Und dann dachte ich, wie es wohl wäre, wenn das die letzte Zigarette sein würde. Für heute. Für diese Woche. Für die nächsten Monate. Für dieses Jahr. Für den Rest meines Lebens. Wie es wohl wäre, wenn ich nicht mehr rauchen würde?

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie es ist, nicht zu rauchen – denn das war lange her, dreißig Jahre. Es interessierte mich aber, und ich dachte: Wenn ich es nicht mag, dann lass ich es mit dem Aufhören und fange wieder mit dem Rauchen an.

Ich leerte den Aschenbecher aus. Die Schachtel, in der noch fünf Zigaretten waren, schmiss ich in den Müll. Dann lud ich mir eine Nichtraucher-App auf mein Smartphone. Und dann, um ganz sicherzugehen, noch eine zweite.

Bei beiden Apps musste ich zu Beginn ein paar Einstellungen vornehmen: seit wann ich rauche, wie viel ich rauche und wie stark die Zigaretten sind, die ich rauche, und was eine Schachtel kostet. All diese Angaben brauchen die Apps, um zu berechnen, wie stark sich in welcher Zeit die Gesundheit verbessert und wie viel Geld man im Laufe der kommenden Wochen und Monate spart. Ich hatte vor beiden Apps keine Geheimnisse, ich beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß, denn einer App gegenüber musste ich nicht so tun, als würde ich weniger rauchen, als ich es in Wirklichkeit tat. Nachdem alles eingegeben war, ging ich ins Bett. Als ich die Augen schloss, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich etwas sehr Wichtiges vergessen hatte, denn bereits jetzt, nach zwei Stunden des Nichtrauchens, fühlte sich alles furchtbar durcheinander an. Sollte ich aufstehen, die Schachtel aus dem Müll holen und doch noch eine Zigarette rauchen? Nicht die letzte, sondern die allerletzte? Mit Sinn und Verstand und Bedacht? Über dem Abwägen dieser Entscheidung bin ich dann schließlich eingeschlafen.

(Ein kleiner Einschub, um es gleich zu Beginn klarzustellen: Rauchen ist mit das Dümmste, was ein Mensch machen kann. Es ist hochgradig ungesund, es kostet sehr viel Geld, es ist eine Belästigung für andere. Rauchen hat noch nie ein Problem gelöst, und es ist weder cool noch lässig. Ich weiß das alles. Ich wusste das auch, bevor ich mit dem Rauchen angefangen habe, während ich geraucht habe, und ich weiß es jetzt. Aber in diesem Text geht es nicht um die Gefahren des Rauchens, sondern um das Leben mit dieser Sucht und um den Versuch, dieses Leben zu ändern.)

1. Juni 2018
Als ich aufwachte, war ich verwirrt. Für einige Sekunden war ich mir noch sicher, dass ich gleich eine Zigarette rauchen würde, doch dann fiel es mir wieder ein: Du hast aufgehört, gestern Abend. Ich stand also auf und wusste, dass es jetzt darum gehen würde, die erste Zigarette des Tages so lange wie möglich nicht zu rauchen. Am besten gar nicht. Und morgen das Gleiche noch mal.

Ich versuchte alles so zu machen, wie ich es jeden Morgen mache – mit dem einzigen Unterschied, dass ich nicht zwischendurch auf den Balkon ging und eine Zigarette rauchte. Ich trank Kaffee, frühstückte, hörte Deutschlandfunk, duschte, verließ die Wohnung, und irgendwie ging alles schneller als sonst. Ich setzte mich aufs Fahrrad, fuhr in die Redaktion, und auf dem Weg dachte ich: Es ist seltsam. Es fühlt sich falsch an, so als hätte ich mein Portemonnaie vergessen.

Als ich in der Redaktion ankam, war ich genauso außer Atem wie sonst auch. Überhaupt war kaum etwas anders als sonst, ich verspürte nur einen Mangel, einen Mangel an Möglichkeiten, an Gelegenheiten. Dafür war ich zwanzig Minuten früher in der Redaktion als sonst.

Ich habe in meinem Büro geraucht, obwohl man das wahrscheinlich gar nicht durfte. Manchmal haben sich Kollegen beschwert, allerdings nie bei mir, mir wurde das “ausgerichtet”, was ich immer sehr feige fand. Ich habe dann einfach weitergeraucht. Die Zigaretten waren fest in meinen Arbeitsalltag integriert, so wie auch das Telefon, der Computer und der Notizblock fest in meinen Arbeitsalltag integriert sind. Jetzt saß ich an meinem Schreibtisch, rechts neben mir ein leerer Aschenbecher. Ich starrte das Ding an. Es würde fünf Minuten dauern, dann könnte ich hier sitzen und eine Zigarette rauchen, und niemand müsste von den vergangenen vierzehn Stunden jemals etwas erfahren. Ich stand auf, packte den Aschenbecher und schmiss ihn in den Mülleimer.

Am Abend fuhr ich von der Arbeit direkt in das Restaurant, in dem ich mich mit meinen Freunden zum Essen traf. Nachdem wir bestellt hatten, sagte ich den beiden, dass ich nicht mehr rauchen würde – da fingen sie an zu lachen. Als wir uns fünf Stunden später verabschiedeten, lachten die beiden nicht mehr, sie schüttelten fassungslos den Kopf.

Fiel es mir schwer? So mittel. Wenn die beiden zum Rauchen vor die Tür gingen, ging ich mit und stellte mich dazu; wenn die beiden ein Bier bestellten, bestellte ich auch eins – es war wie immer, wenn wir uns trafen, und doch war es ganz anders, aber vor allem für die beiden und nicht für mich. Sie machten Witze, sie hänselten mich, lachten, verdrehten die Augen. Es schien fast so, als seien sie ein wenig hilflos und könnten mit der Situation nicht richtig umgehen. Erst als ich in der Nacht nach Hause kam, hätte ich gern eine Zigarette geraucht, aber da dachte ich, dass es jetzt auch schon zu spät sei.

4. Juni 2018
Nicht geraucht. Seltsam.

7. Juni 2018
Und so erinnere ich mich an die erste Zigarette meines Lebens: Dahinten steht der Zigarettenautomat, er ist von der Straße nicht einsehbar, selbst wenn also zufällig jemand vorbeikommen würde, der mich kennt – er würde mich nicht sehen können. Ein Griff in die linke Hosentasche, da ist das Feuerzeug, entwendet von dem Ort, an dem es immer lag und an den es nachher wieder zurückgelegt werden muss, die Küchenschublade mit all dem Krams, von dem man nicht weiß, wo er sonst hinsoll: das Maßband, ein kleiner Schraubenzieher, eine Tube Uhu. In der rechten Hosentasche das Geld, zwei 1-Mark-Münzen und eine 2-Mark-Münze, aus dem Bestand des ehrlich verdienten Taschengeldes, mit dem man ja schließlich – die Mutter hat es oft genug gesagt – machen könne, was man wolle. Und man will damit Zigaretten kaufen, man muss damit Zigaretten kaufen. Spielzeug, Süßigkeiten – alte Begierden, lange her, bestimmt ein halbes Jahr.

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