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Binge Watching: Wozu noch lesen

Jüngst lernte ich ein neues Wort kennen, bingen. Mit kennenlernen meine ich: Ich verstehe es jetzt wirklich, sprich körperlich. Wie man hört, kommt es aus dem Englischen, wo es ursprünglich “Gelage” bedeutete. Inzwischen benutzt man es für jede Art exzessiver Stoffzuführung: einen Fressanfall, Komasaufen. Sich stopfen, nicht aufhören können. Auf Englisch hat das Wort auch mit bin, dem Mülleimer, zu tun. Wieder einmal bin ich froh, dass meine Hauptsprache Deutsch ist, ich das also nicht denken muss – lieber halte ich mich an Descartes: Ich binge, also bin ich.

So jedenfalls ging es mir über Weihnachten und Silvester. Damit meine ich ausnahmsweise nicht die Nahrungsaufnahme, sondern Netflix & Co. Seit einem guten Jahr bin ich angemeldet. Und was geschieht? Genau – auf der Suche nach einem Wort für mein Verhalten begegnete ich dem b-Verb.

Offensichtlich habe ich mir ein kindliches Gemüt bewahrt. Und eine einfache Gehirnstruktur. Mein Belohnungszentrum schreit “mehr!”. So werfe ich mich abends auf die Chaiselongue: Episode, Staffel, Serie, Sucht. 45 Minuten und die nächste Folge. Nichts hilft. Ich klicke weiter, bin sauer, dass House of Cards wieder läuft, aber nicht auf dem deutschen Netflix, rege mich auf über deutsche Beschränkungen. Muss das sein? Und warum kann ich nicht zwischen verschiedenen Sprachen wählen? Da gibt es was aufzuräumen, Leute…! Im Übrigen überrasche ich mich damit, was mir gefällt, was nicht. Regelmäßig irrt Netflix sich mit seinen “persönlichen” Empfehlungen. Solange ich anders bin, als der Algorithmus meint, kann ich beruhigt weitermachen.

Mein Rücken tut weh, ich verbringe zu viel Zeit mit dem Notebook auf dem Schoß. Decke, Dunkelheit, Nacht. Ich genieße die nächsten Stunden ganz allein mit der Welt der Figuren.

Erzähle ich anderen, was ich mache, fallen mir gute Gründe dafür ein. Ich lerne etwas. Über die Welt und unsere Vorstellungen von ihr. Noch dazu auf Englisch. Zudem erfahre ich etwas über das Erzählen von heute. Wie wird es gemacht? Es ist einfach, mich zu “hooken” – ein bisschen Geschichte, und schon zappele ich am Angelhaken wie der Fisch. Sprache wandelt sich. Sehgewohnheiten wandeln sich. Springen und zappen: nein. Unterbrechungen durch Werbeblöcke: nein. Ich schaue “durch”, lasse mich in den Stoff ziehen. Die Erfindung der Fernbedienung und die Einführung der Privatsender haben Ende der Achtzigerjahre die Fernsehgewohnheiten revolutioniert. Zeitgleich veränderten sich die Anforderungen an Spannung, Plotpoints, Erzähleinheiten. Kurzteilig. Schnell – sonst switchen sie weg. Mehrspurig. Durchaus auch selbstironisch. Durchbrechen der vierten Wand: Zeige der Zuschauer*in, dass du weißt, dass sie da ist.

Dies ändert sich nun erneut. Es entsteht wieder mehr Zeit. Allerdings getaktet im Episodenformat. 45 Minuten, mit Cliffhanger. Wie einst, als Romane in Zeitungsfortsetzungen veröffentlicht wurden.

Und dabei kommt nun doch Silvester ins Spiel. Freunde von Freunden schauten vorbei. Das Ganze war wie immer: essenziell seltsam. Silvester hat keine wirkliche Erzählung (anders als Weihnachten), es ist nur ein Punkt. Das funktioniert als Fest ausgesprochen schlecht; aus Verlegenheit greift man zu mehr oder minder hilfloser Komik. Die Pappnase “Zeit” trägt ohnehin jeder im Gesicht. Wir saßen also herum und tranken, als jemand fragte, wie ich schreibe. Es war ein Journalist, der auch schreiben will: Sie sind immer die schlimmsten. Und besten. Er fragte, als wäre ich ein Auskunftsbüro. Ich machte das Spiel mit, sagte das eine. Das andere schreibe ich nun hier auf. Denn tatsächlich brachte er mich auf eine Idee. Er suchte nach mehr Drama für seinen Stoff. Armer Kerl, dachte ich. Das läuft inzwischen anderswo ab.

Serien haben die Lebensbegleitung übernommen. Durchschnittliche Leben – miterlebt. Dramen in diesen Leben – miterlitten. Morde, zumindest in der Ekelformation, hängen mir allmählich zum Hals heraus, nicht aber Rechts- und Staatssysteme. Charles Dickens, 21. Jahrhundert. Es tauchen auf: jede Menge Figuren, Geschichten und Geschichtchen. Sehr häufig kommen die alten Erzähltechniken der Vorausdeutung und Rückblende zum Einsatz (und funktionieren – siehe etwa How to Get Away with Murder). Alles schmilzt, man erwartet das Schlimmste, freut sich über Spannung, Wendungen, gut erfundene Figuren.

Da passierte es: Ein Gefühl großer Freiheit tat sich auf. Welche Geschichten sind es wert, in Worten erzählt zu werden? Ich brauche so viel weniger Mimesis als diese Serien. Bin so viel freier (ohne Aufwand) darin, wen ich erzählen lasse. Titanic, aus der Sicht des Schiffs. Und: Ich kann noch viel flüssiger umgehen mit Zeit.

So wurde es doch noch eine Silvestergeschichte. Danke bingen: Nun weiß ich, was ich mit Worten nicht (mehr) zu tun brauche. Balzac, Dickens: good-bye. Good-bye Thomas-Mann-langer Satz, good-bye alle Harmlosigkeiten der Monokausalität, das Einstrangdenken, die Darstellung der Welt in sozialen Hundertpersonengeschichten.

Ich packe die Decke, rücke die Chaiselongue zurecht, setze mich in die Dunkelheit und denke nach. Über den Himmel galoppiert, was “Rauhnacht” heißt (Geister? Oder nur eine besonders hohe kosmische Teilchendichte). Ich lese – lasse mich ein auf die Intimität der Begegnung im Wort. Wo jemand, als Stimme, als Ich, allein zu mir spricht. Und ich spüre wieder, was lesen heißt: nicht Zuschauende bin ich, sondern Mitsehende, nicht Lauscherin, sondern Angesprochene. Jedes Buch ist insgeheim in der zweiten Person geschrieben. Immer an mich, die Leserin gerichtet. Manche Texte machen das offensichtlich. Doch bei jedem trete ich in diesen Raum: Ein Mensch, er mag längst nicht mehr am Leben sein, spricht eben dort zu mir, wo ich gemeinhin nur meine eigene Stimme höre. So öffne ich das Buch (ja, am liebsten wirklich als Körper in der Hand) und trete meinerseits körperlich in es ein. 

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