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Jahresbestseller 2018: Deutschland, deine Bücher

Sollten Sie gerade einmal nicht wissen, wo Sie sich befinden, dann dürfen Sie sicher sein: Sie sind in einer Krise. Weil sich alles in einer Krise befindet. Die EU und Deutschland, die parlamentarische Demokratie, die Autoindustrie, die Ehe von Willi Herren und, soweit man hört, auch das Lesen. Nicht das Buch an sich, wohlgemerkt, denn wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels verlauten lässt, ist der Gesamtbranchenumsatz im Jahr 2018 gegenüber dem Vorjahr um 0,1 Prozent gestiegen. Das ist wenig im Verhältnis zur Steigerung der chinesischen Energieproduktion, aber verhältnismäßig viel im Vergleich zum Promillegehalt des Durchschnittsdeutschen in der Silvesternacht. Und was macht der Durchschnittsdeutsche an sich sonst noch so? Genau: Er kauft sich einen SUV und liest Romane von Sebastian Fitzek.

Etwa 800.000 SUV werden pro Jahr in Deutschland angeblich gekauft. Eine erschreckende Zahl, die allerdings mühelos in den Schatten gestellt wird von der Erkenntnis, dass Sebastian Fitzek, Autor sogenannter Thriller, mittlerweile mehr als zehn Millionen Bücher verkauft hat. Sein neuer Roman Der Insasse ist, wie ebenfalls der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in seinen soeben veröffentlichten Jahresbestsellercharts ausweist, das in Deutschland bestverkaufte belletristische Werk des Jahres 2018. Mit seinem Roman Das Paket wiederum liegt Fitzek auf Platz zwei der Jahresbestseller im Bereich Taschenbuch. Und mit Passagier 23 immerhin noch auf Platz 24. Was könnte es bedeuten, wenn im Land der SUV ein Autor wie Sebastian Fitzek eine kulturelle Breitenwirkung erzielt, von der jedes Goethe-Institut nur träumen darf?

Wer Fitzek nicht kennt: Sein holprig geschriebener Roman Der Insasse beginnt mit dem Satz: “Dafür, dass Myriam gerade die Hölle betrat, war es viel zu kalt hier unten, in dem fensterlosen Kellerverschlag mit den feuchten Ziegelwänden, an denen der schwarze Schimmel wie Krebs in den Bronchien einer Raucherlunge haftete.” Der Insasse handelt von einem Mann, der sich in die Psychiatrie einweisen lässt, um an den mutmaßlichen Mörder seines Kindes heranzukommen. Später wird dann auch Bedauern darüber geäußert, dass Deutschland eine Demokratie und die Folter ja leider verboten sei, selbst gegenüber Monstern. Wenn alle Leser und Leserinnen von Sebastian Fitzek AfD wählen würden, wäre das Land vermutlich verloren.

Eine dringende Warnung

Aber die Jahresbestsellerliste macht auch Hoffnung: Immerhin stehen Frank Schätzing (Die Tyrannei des Schmetterlings) und Dörte Hansen (Mittagsstunde) auf den Plätzen zwei und drei – also Autoren, denen es gelingt, die winzige Schnittmenge zwischen Bestsellertauglichkeit und Literaturfähigkeit auszufüllen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Dörte Hansens ziemlich guter Roman wiederum von einer Krise erzählt: der Krise des ländlichen Raums und dem schleichenden Niedergang des dörflichen Lebens in den vergangenen Jahrzehnten. Und bemerkenswert ist auch, dass Mariana Lekys bereits 2017 erschienener Roman Was man von hier aus sehen kann zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler gekürt wurde und sich auf Platz neun der Jahrescharts wiederfindet.

Eine dringende Warnung muss man im Hinblick auf Charlotte Links Roman Die Suche (Platz sechs) aussprechen: Das Buch kann lebensgefährlich sein. Beispielsweise dann, wenn man beschließt, das Hörbuch auf einer langen Autofahrt zu konsumieren. Es wird schwierig sein, das unmittelbare Einschlafen am Steuer zu vermeiden, falls einen gerade nicht die sprachlichen Schlampereien dieser Autorin unwirsch wachhalten.

Wirklich überraschend sind die Platzierungen im Bereich des Sachbuchs: Nein, Thilo Sarrazin hat es nicht an die Spitze, sondern gerade einmal auf Platz vier geschafft. Ganz vorne: Michelle Obama (Becoming) und Stephen Hawking (Kurze Antworten auf große Fragen). Die große Frage: Gibt es zwei getrennte Buchmärkte? Ist es denkbar, dass ein Mensch in eine Buchhandlung geht und mit dem neuen Fitzek und dem neuen Hawking in der Tasche wieder herauskommt? Ist dieses Land nicht nur in der Krise, sondern schizophren? Werden wir bald alle Insassen zwischen feuchten Bestsellerziegelwänden sein? Die Antwort gibt die Ratgeber-Bestenliste, Platz sechs: Alexandra Reinwarth: Am Arsch vorbei geht auch ein Weg.

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