/“Brexit: The Uncivil War”: Der Brexit-Bereiter

“Brexit: The Uncivil War”: Der Brexit-Bereiter

Der Saal im Parlament
wirkt durch die verzerrte Perspektive der Kamera wie ein Raumschiff. Dominic Cummings starrt auf die im Halbrund versammelten Abgeordneten. Wir schreiben das Jahr vier nach dem Brexit-Referendum.
Cummings, führender Kopf der damaligen Leave-Kampagne, soll Rede und Antwort stehen: Wie hatte es so weit kommen
können? Aber er antwortet nicht. Stattdessen hören wir seine wirren Gedanken
aus dem Off.

Diese Szene hat nicht wirklich stattgefunden. Im
wirklichen Leben hat sich Dominic Cummings nie vor dem Parlament geäußert. Er erschien einfach nicht vor dem Ausschuss, der ihn geladen hatte. Die Szene ist ein Ausschnitt aus dem Spielfilm Brexit: The Uncivil War, der am
Montagabend im britischen Fernsehsender Channel 4 gesendet wurde. Die Ausstrahlung
fand an dem Tag statt, an dem die echte Regierung für den Fall eines harten Brexit einen Lkw-Stau rund um Dover
simulierte
– um zu testen, wie schlimm die Auswirkungen auf den Verkehr nach
der Wiedereinführung von Grenzkontrollen ausfallen würden. Einem Tag, an dem die
Premierministerin Theresa May tapfer – man könnte auch sagen: stur – versicherte, sie könne noch einmal
mit der EU verhandeln und mit neuen Zugeständnissen doch noch eine
Parlamentsabstimmung gewinnen. Obwohl der Vertrag mit der EU längst abschließend
ausgehandelt worden ist, obwohl so gut wie feststeht, dass May die Abstimmung
mit krachender Mehrheit verlieren wird.

In diese verzweifelte Stimmung hinein versucht nun der
erste Spielfilm, zu begreifen, was mit Großbritannien geschehen ist, als die
Bürger des Landes vor zweieinhalb Jahren ganz knapp dafür stimmten, die EU zu
verlassen. Das Drehbuch für die Koproduktion
von Channel 4 und dem amerikanischen Sender HBO stammt vom britischen
Drehbuchautor James Graham. Der erfolgreiche
37-jährige Theaterautor hat für Brexit:
The Uncivil War
Dominic Cummings als Protagonisten gewählt. Gespielt
wird er von dem auf abgründige Rollen abonnierten Schauspieler Benedict Cumberbatch (Sherlock, Patrick Melrose).

Cummings ist außerhalb
Großbritanniens nicht allzu vielen Menschen bekannt. Dabei war er einer der
wichtigsten Wegbereiter des Brexit. Nicht nur Remainern gilt er als Mephistopheles
des Referendums: gerissen, skrupellos und für einen Sieg bereit, die Seele des
Landes zu verkaufen. Seine Anhänger feiern ihn als genialen Visionär, der zielgenauer als jeder andere die Ängste und
Wünsche der britischen Bevölkerung traf.

Cummings Gegenspieler Craig Oliver (gespielt von Rory Kinnear) ist ebenfalls eine reale Figur: Der ehemaliger BBC-Journalist war vom damaligen Premier David Cameron als
Pressechef angeheuert und schließlich mit der Remain-Kampagne betraut worden. Seine
Kritiker werfen Oliver vor, er sei zu etabliert und ideenlos, der Pro-EU-Kampagne
fehlten Glanz und Feuer. Oliver und Cummings bilden die beiden Pole des Dramas: Strippenzieher einer Kampagne, die ganz
Europa betreffen wird.

Der Regisseur Toby Haynes (Sherlock,
Dr. Who, Black Mirror) jagt die Zuschauer durch die
ersten Monate der Kampagne. Die Kamera ist gehetzt, verzerrt den Bildausschnitt
oder schneidet ihn ab. Wie durch einen Briefkastenschlitz späht man auf die heftigen
Streitgespräche der Teams, welcher Weg zu Herzen und Hirnen der Wähler der
richtige sei. Manchmal gleiten die Szenen sogar ins Surreale ab, etwa wenn Cummings
mitten im Gespräch mit Bürgern den Raum verlässt, obwohl diese gerade beginnen,
ihm ihr Herz auszuschütten, wie sehr sie sich von den Politikern vernachlässigt
fühlen. Ein rätselhaftes Brummen treibt Cummings aus dem Haus, auf die Straße,
wo er schließlich sein Ohr auf den Asphalt legt. Dann richtet die Kamera den
Blick auf das abgründige Schwarz darunter.

Viele Szenen zeigen Cummings im Gespräch mit potenziellen
Wählerinnen und Wählern. Man hört ihn sprechen, er stellt Fragen, abgerissen,
hastig. Schnitt. Die nächste Runde, die nächsten Fragen. Bei all dem hört man
allerdings nur den fragenden Cummings, aber niemals eine Antwort, niemals einen
Gesprächspartner. Der Film interessiert sich nur für den Spin-Doctor. Bürgerbefragung als Ein-Mann-Spektakel.

Gut ein Drittel des Films vergeht so. Mit Satzfetzen,
halben Gedanken, durcheinandergeworfenen und einander überschreienden Stimmen. Indem er nicht erklärt, erklärt Brexit:
The Uncivil War
unwillkürlich doch: Er führt die Unfähigkeit vor, über Politik, über Europa, über
Demokratie, über die Frustrationen, die Angst und die Wut der Bürger zu reden.

Grahams Drehbuch kreist um die Kampagnen, bewegt sich in der Blase der politischen Strategen. Mit genüsslichem Spott zeigt er die angegrauten Establishment-Euroskeptiker, die über Brüssel und die
EU-Bürokratie reden wollen und nicht verstehen, dass Cummings mit seiner schrillen
Leave-Kampagne und den Slogans “Take back control” (“Gewinnt das Kommando zurück”) und “350 Millionen Mäuse – und die Türkei” schon längst auf dem Siegespfad ist. Nahezu die Hälfte der Briten glaubte den Lügen, mit dem EU-Austritt würden 350 Millionen Pfund, die
Großbritannien angeblich wöchentlich an die EU überweise, für das marode britische
Gesundheitssystem frei, sowie der Drohung, nach einem bald zu erwartenden EU-Beitritt
der Türkei könnten sich mehr als 70 Millionen türkischer Migranten nach
Großbritannien aufmachen.

Im Film versucht auf
der anderen Seite ein zunehmend entnervter Craig Oliver, eine repräsentative Wählergruppe mit
Argumenten wie dem Bruttosozialprodukt, EU-Verträgen und Statistiken zu
überzeugen – aber die Menschen glauben ihm einfach nicht.

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