/Polen: Herr Grzesiek und mein Großvater

Polen: Herr Grzesiek und mein Großvater

“Hätten die Amerikaner
ihre Atombombe doch einfach auf Deutschland geworfen, dann wäre Ruhe
gewesen”, sagt Herr Grzesiek und fügt hinzu: “Damals, 1940, habe ich
mit eigenen Augen gesehen, wie in Praga, am anderen Ufer der Weichsel, ein Deutscher
in einer grauen Uniform ein jüdisches Mädchen erschoss. Einfach so. Am
helllichten Tage. Mitten auf der Straße. Vor aller Augen.” Pan Grzesiek
war als Jugendlicher Zwangsarbeiter bei der Eisenbahn. Die Stadt, in der er
aufwuchs, gibt es nicht mehr, weil die deutschen Besatzer im Spätsommer 1944
nach der Niederschlagung des Aufstands Haus für Haus in Brand gesetzt hatten.
Jetzt sitzt Herr Grzesiek auf dem Balkon eines Warschauer Hauses, das nur
stehengeblieben ist, weil es ganz am Rand der Stadt gebaut wurde. Unwirsch
erzählt er vom Krieg. Jetzt fragt er, woher ich komme. Ich erzähle von meinem
Großvater Heinz, der drei Jahre früher als er zur Welt gekommen war und sich
als Siebzehnjähriger noch kurz vor Kriegsende freiwillig zur Wehrmacht gemeldet
hatte. Er lebt in Görlitz in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Gasetagenheizung,
Raufasertapete an allen Wänden und meiner Großmutter, die sich rund um die Uhr
um ihn kümmert. Herr Grzesiek lebt allein in einem Zimmer, die Wände wurden vor
einigen Jahrzehnten das letzte Mal gekalkt. Die letzten Nachbarn in dem Haus,
das von der Stadt verwaltet wird, zogen schon vor Monaten aus.

2017 gehört die Erinnerung
an den Krieg zum Warschauer Alltag. Sie ist omnipräsent, aber nicht weiter
auffällig. Deshalb bin ich überrascht, als ich im Frühjahr großformatige
Plakate einer “Bewegung für politische Hygiene” im Zentrum entdecke.
Der Grafiker hatte den Metallbogen des Tors zum Stammlager von Auschwitz mit
dem Spruch “Reparationen machen frei” überschrieben. Ein Foto von ausgemergelten
Lagerinsassen ist mit einem schwarz-rot-goldenen Stempel versehen: Made in
Germany. Ich empfinde das als Provokation, gehe aber der Sache nicht weiter
nach. Doch als Jarosław Kaczyński in einem Interview mit Radio Maryja
verkündet, die Deutschen hätten ihre Kriegsschuld nicht beglichen, wird klar:
Es hat sich etwas verändert, und die Plakate waren nur die visuellen Vorboten.
Nach über zwei Jahrzehnten von Versöhnungsinitiativen und dem beiderseitigen
Ringen um Verständigung hatte sich eine neue Normalität des Austauschs
eingestellt. Doch hatten sich wirklich alle in dieser neuen Qualität von
Nachbarschaft wiedergefunden? Die Regierung der Partei “Recht und
Gerechtigkeit” hält diese Normalität für eine Folge geschickter deutscher
Politik und setzt gezielt auf Konfrontation, auf rigoroses Einfordern und auch
auf Diffamierung. Dabei geht es nicht um den Auftakt zum Gespräch mit der
deutschen Seite. Die Adressaten dieser Politik sind die Wähler der PiS in
Polen
, denn sie bekämen es zu spüren, wenn Polen ab 2020 weniger EU-Subventionen
erhielte.

2016 hatte sich die antiwestliche Rhetorik noch
gegen Brüssel
und damit indirekt auch gegen eine deutsche Dominanz in der
Europäischen Union gerichtet. Ab dem Sommer 2017 wenden sich Kaczyński und sein
damaliger Außenminister offen gegen Deutschland. Sie stellen die rechtliche
Konstruktion der Nachkriegsordnung in Frage, die seit dem Abkommen von Potsdam
stets auf eine Friedenskonferenz in der Zukunft verwies. Das offizielle Polen
sieht Deutschland nicht mehr als starken Verbündeten. PiS-nahe Medien stellen
es seither systematisch als feindselig und antipolnisch dar. Das
Staatsfernsehen bezeichnet die deutsche “Flüchtlings- und
Multikultipolitik” als Geheimwaffe, mit der Berlin gezielt das Ende des
Abendlands einleiten will. Zu den anderen Dauervorwürfen gehört, dass der
deutsche Staat polnische Kinder germanisiere, wenn das Jugendamt in der
Ortschaft X in einem Sorgerechtstreit im Sinne des deutschen Elternteils
entscheidet. Außerdem setze sich Deutschland systematisch über den Willen der
kleineren Staaten innerhalb der EU hinweg. Und es befördere das, was in Polen
“Ideologia Gender” heißt – die Abwendung von einem traditionellen,
patriarchalischen Familienbild, in dem Frauen vor allem für die Geburt von
Kindern und ihre Aufzucht zuständig sind und Homosexualität als Problem
dargestellt wird.

Das Wort der Stunde ist
“Podmiotowość” – die Fähigkeit, Entscheidungen eigenständig
umzusetzen. Seine fortwährende Verwendung unterstellt, Polen sei innerhalb der
EU nicht mehr souverän, weil es in den zwischenstaatlichen Verträgen bestimmte
Entscheidungskompetenzen an die Union abgetreten hat. Was Jarosław Kaczyński
und seine Minister verschweigen, ist, dass frühere Regierungen demokratisch
legitimiert für den Beitritt gestimmt und sich aktiv an der Ausarbeitung von
Kompromissen innerhalb der Union beteiligt hatten. Die Komplexität bestehender
Verträge, die Polen selbst unterzeichnet hat, stellen sie deshalb immer wieder
als Verschwörung gegen Polen dar.

Im Kampf für ein Europa der Vaterländer ist den
rechten Kräften in Warschau jedes Mittel Recht. Zur Demonstration anlässlich
der Staatsgründung
am 11. November 1918 ruft 99 Jahre später zum ersten Mal der
polnische Präsident auf, obwohl der Marsch der Unabhängigkeit von offen
rechtsradikalen Gruppierungen organisiert wird. Die Folge ist, dass 2017 neben Zehntausenden
national-konservativen Familien auch Dutzende Neofaschisten beschützt von der
Polizei durch das Zentrum von Warschau marschierten
. Im Jahr darauf war die
PiS-Regierung dann ganzoffiziell in einem riesigen Demonstrationszug gemeinsam
mit Rechtsradikalen, Hooligans und Neofaschisten unterwegs.

Schon zuvor gab es in Warschau Anzeichen dafür,
dass politische Kräfte, die einst als konservativ galten, Europa als
Schlachtfeld für eine völkische Revolution verstehen. Im Februar 2016 hatte die
Leipziger Pegida den internationalen Aktionstag “Festung Europa”
organisiert. Vor dem Warschauer Königsschloss hielt Tatjana Festerling, die
selbst der AfD zu radikal erschien, eine hasserfüllte Rede. Polnische
Hooligans, Neofaschisten und Rechtsradikale jubelten ihr zu: “Islamisten,
Dschihadisten” und “Polen den Polen”. Ich begriff nicht, wie im
Herzen einer im Zuge von Hass und Rassismus gänzlich zerstörten Stadt erneut zu
Hass und Rassismus aufgerufen werden kann. In der Zeitung kommentierte ich,
dass sich vor allem Wladimir Putin darüber freuen dürfte, dass hier Polen und
Deutsche gemeinsam auf das ideelle Fundament der Europäischen Union zielen.

Als Privatperson zeigte ich am nächsten Tag Tatjana Festerling bei der Warschauer Polizei wegen Volksverhetzung an. Eine E-Mail
genügte, und schon wenige Tage später nahm ein Polizist bereitwillig meine
Zeugenaussage auf. Er war nicht begeistert davon, dass er nun das Video mit
Festerlings Rede transkribieren musste, in der sie Muslime pauschal als
Kinderschänder und Deutschland im Herbst 2015 als Freiluftpsychiatrie
beschreibt. Aber der Umstand, dass zwei deutsche Staatsbürger in Polen über die
Definition von Fremdenfeindlichkeit streiten, schien ihm eine gewisse Freude zu
bereiten. Die Warschauer Staatsanwaltschaft bestätigte den Anfangsverdacht auf
Volksverhetzung und eröffnete ein Verfahren gegen Festerling, die seither in
Polen als Verdächtige des Verbrechens der Volksverhetzung gilt. Überschreitet
sie die Grenze, wird ihr innerhalb von achtundvierzig Stunden der Prozess
gemacht.


Dieser Artikel stammt aus der Januar-Ausgabe des “Merkur”.
© Klett-Cotta

Nur wenige Monate später ermuntert die polnische
Regierung ebenjene polnischen Hooligans, Neofaschisten und Rechtsradikalen, am
11. November zu einem patriotischen Marsch durch Warschau zusammenzukommen, an
dem zum Teil dieselben Losungen gegrölt werden wie während der Kundgebung
“Festung Europa”.

Im Alltag sehe ich immer
wieder Pan Grzesiek auf seinem Balkon sitzen. Die kurzen Gespräche mit ihm machen
mir klar, dass es dennoch etwas anderes ist, ob Parolen nationaler
Selbstbehauptung 2017 in Deutschland oder in Polen formuliert werden.
Ethnischer Nationalismus und eine menschenverachtende Rassenideologie haben von
Deutschland aus halb Europa in Schutt und Asche gelegt, nicht von Polen aus.
Das lässt die neuerlichen Beschwörungen des ethnischen Nationalismus und
rassistische Hetze in Polen nicht angenehmer oder legitimer erscheinen, aber
sie werden doch in einem anderen Kontext als politische Waffe zur Sicherung der
PiS-Herrschaft eingesetzt.

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