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Arbeit auf dem Kreuzfahrtschiff: Unter Deck

Bevor Michael Flores* seine Freundin treffen kann, muss er drei Hummer oder eine teure Flasche Wein verkaufen. Das ist der Preis der Freiheit für Flores, der 35 Jahre alt ist, von den Philippinen stammt und als Kellner an Bord eines Kreuzfahrtschiffes der Linie Costa arbeitet. Die Reederei Costa hat ihren Sitz in Genua, aber ihre Flotte fährt Häfen auf der ganzen Welt an. Besonders häufig ist Flores im Mittelmeer unterwegs. Während des Abendessens preist er die Hummer auf einem Servierwagen an, und wenn er drei davon verkauft hat, darf er am nächsten Tag das Schiff verlassen, so erzählt er es. Das habe sein Vorgesetzter so festgelegt, es sei eine interne Regel, sagt Flores. Seine Freundin Valerie Fischer, eine 32-jährige Deutsche, fliegt, wenn sie kann, in die Häfen, in denen Flores anlegt, nach Marseille, Dubai oder Ibiza, um ein paar Stunden mit ihm zu verbringen. Dass Michael Flores drei Hummer oder eine teure Flasche Wein verkauft, kommt selten vor, vielleicht ein- oder zweimal im Jahr.

Kann es sein, dass es gar keine Hummer-Regel gibt? Die Reederei Costa behauptet das. Es gebe für die Mannschaft generell keinen Freizeitausgleich dafür, dass sie an Bord etwas verkaufe oder eine bestimmte Leistung erbringe. Erhalte man Kenntnis von einem entsprechenden Fall, werde intern ermittelt, schreibt das Unternehmen. Aber wenn die Hummer-Regel nur auf dem Schiff gilt und sich nicht zur Zentrale herumspricht, dann schöpft dort auch niemand Verdacht.

Michael Flores jedenfalls muss weiter jeden Morgen, auch am Wochenende, auch an Weihnachten und Ostern, um fünf Uhr aufstehen, um beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendessen die Passagiere des Kreuzfahrtschiffes zu bedienen. Am Tag arbeitet er 14 bis 16 Stunden, in der Nacht schläft er nicht mehr als fünf Stunden. Seine dritte Schicht endet meist erst nach Mitternacht. Er verdient knapp 1000 Euro netto im Monat, das ist für Flores viel Geld, auf den Philippinen würde er nur einen Bruchteil bekommen. Keinen einzigen Tag hat Flores frei, neun Monate lang. Dann endet seine Zeit an Bord, und er wartet auf einen neuen Vertrag, während er seinen Jahresurlaub nimmt.

Zwischen den langen Arbeitsschichten macht die Crew eine Sicherheitsübung.
© Daniel Delang

Wie Michael Flores ergeht es den meisten der rund hundert Menschen, mit denen das
ZEITmagazin
für diese Recherche gesprochen hat. Sie nennen sich selbst Seefahrer und arbeiten auf den großen Kreuzfahrtschiffen der europäischen Reedereien Costa, Aida und MSC als Kellner und Köche, sie reinigen Kabinen, verkaufen Massagen und stehen hinter Theken. Sie sind in asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Ländern aufgewachsen, vor allem in Indien und auf den Philippinen. Die schönen Städte, die sie anfahren, Hamburg, Barcelona oder Genua, haben die meisten von ihnen noch nie gesehen, obwohl sie alle paar Wochen dort sind. Sie müssen meist an Bord bleiben, während die Touristen zu Landausflügen aufbrechen.

Manche dürfen ihre Schiffe verlassen, aber nur für wenige Stunden. Sie suchen dann als Erstes einen kostenlosen Internetzugang. Denn an Bord müssen die Seeleute für jede Minute, für jedes Megabyte bezahlen. Einige haben Internetrechnungen von 200 bis 300 US-Dollar pro Monat. Das liegt daran, dass auf See über Satellit gefunkt wird – Passagiere zahlen für Internet noch mehr als die Crew. Und so sieht man in den Häfen in den Wartehallen vor riesigen Kreuzfahrtschiffen ausgemergelte Gestalten in Uniform sitzen, abgeschottet durch Kopfhörer, auf die Bildschirme ihrer Telefone starrend.

Da ist der 28-jährige Indonesier, Kellner auf einem Aida-Schiff, der sagt: “Das Schlimmste sind die Seetage. Dann ist der Internetempfang schlecht. Jeden Tag rufe ich meine Frau und meine drei Kinder an. Wir reden nicht viel miteinander, meistens schauen wir uns nur an. Wenn ich nach zehn Monaten Arbeit an Bord wieder für kurze Zeit nach Hause komme, habe ich das gleiche Gefühl: Ich schaue meiner Familie beim Leben zu. Wenn du auf dem Schiff arbeitest, verlierst du deine Familie.”

Da ist die 25-jährige Filipina, Masseurin auf einem Aida-Schiff, die sagt: “Meine sechsjährige Tochter lebt bei meiner Mutter. Natürlich vermisse ich sie. Was für eine Frage. Aber ich muss das hier machen, damit sie einmal studieren kann. Wenn sie krank ist, wird es schwierig für mich. Dann kann ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren und mache Fehler. Einmal habe ich sie sehr vermisst und einen großen Eimer mit Chemikalien umgekippt, aus Versehen. Es gab großen Ärger von meinem Chef. Seitdem versuche ich, weniger an sie zu denken. Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren.”

Da ist der 30-jährige Putzmann aus der Karibik, der auf einem MSC-Schiff arbeitet und sagt: “Als Vater ist es meine Aufgabe, meine Tochter zu sehen, aber das geht nicht. Wegen des Geldes. Nach fünf Monaten auf dem Schiff verlierst du deinen Verstand, du fühlst gar nichts mehr, du bist einfach nur müde.”

Immer muss aufgeräumt und geputzt werden, damit es makellos für die Passagiere ist.
© Daniel Delang

Da ist der 22-jährige Inder, Putzmann auf einem MSC-Schiff, der sagt: “Als ich das erste Mal das riesige Fitness-Studio gesehen habe, das ich jede Nacht reinigen muss, ist mir schlecht geworden. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass das ein einzelner Mensch schafft. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Nach ein, zwei Monaten stellt sich dein Körper um. Du bist dann kein Mensch mehr, der eine Pause braucht. Du denkst dann nicht mehr nach und machst die Arbeit einfach. Wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, muss ich oft weinen. Sie auch.”

Keiner der Seeleute, mit denen das
ZEITmagazin
gesprochen hat, bekommt während der Monate an Bord auch nur einen Tag vollständig frei.

Manche sind stolz, für eine bekannte Marke wie Aida zu arbeiten. Aber keiner sagt, er arbeite gerne auf einem Kreuzfahrtschiff.

Jeder von ihnen sagt, er sei müde. Alle haben ein eingefallenes Gesicht und tiefe Augenringe, viele gehen gebückt.

Noch nie waren Kreuzfahrten so beliebt wie heute. Keine andere touristische Industrie wächst so schnell. 2017 haben mehr als zwei Millionen Deutsche Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff gemacht. Seit 2007 haben sich die Passagierzahlen verdreifacht. Die Werften kommen mit dem Bau der Schiffe gar nicht mehr hinterher, so groß ist die Nachfrage. Das größte Kreuzfahrtschiff von Aida, die
AIDAnova,
ist 337 Meter lang, fasst mehr als 2600 Passagierkabinen, 17 Restaurants, einen Kletterpfad und ein Theater. Im Schnitt kommen auf ein Besatzungsmitglied drei bis vier Passagiere. Die
MSC Meraviglia
beispielsweise hat Platz für bis zu 5714 Passagiere und 1536 Besatzungsmitglieder.

Wenn sich die gigantischen Schiffe an der Mittelmeerküste entlang vor kleine Städte schieben, sieht das aus, als sei ein Ufo in einem bayerischen Dorf gelandet. Die Städte kommen damit schwer zurecht. Im italienischen Venedig nennen die Anwohner die Kreuzfahrtschiffe Seeungeheuer. Im kroatischen Dubrovnik gibt es zu wenig Toiletten für die 740.000 Menschen, welche die Kreuzfahrtschiffe im Jahr 2018 ausgespuckt haben – regelmäßig urinieren die Touristen auf die Straßen der Stadt. Die Gäste bleiben zu kurz, um wirklich Geld auszugeben. Die Bewohner demonstrieren häufig gegen die Schiffe.

Der Protest der Anwohner tut der Beliebtheit von Kreuzfahrtschiffen keinen Abbruch, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Schiffe Tonnen von Schweröl verbrennen.

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