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Digitale Verwaltung: Amtsmüde

Das Schlimmste am Umziehen ist für mich nicht das Schleppen der Kisten.
Nicht der Moment, in dem der ganze Besitz in einer neuen, leeren Wohnung steht und das Elend
mit dem Schon-wieder-Auspacken von vorn beginnt. Am schlimmsten ist der Moment im
Einwohnermeldeamt, wenn ich an einem dieser Automaten eine Wartemarke ausdrucke: krchkrchkrch
– das akustische Abbild von Amtsschimmel und schalen Witzen auf Abreißkalendern: “Was haben
denn alle gegen Beamte? Die tun doch gar nichts.”

Überhaupt, die Geräusche in deutschen Ämtern! Bei jedem Gong blicken wir Wartenden hoch von unseren unbequemen Holzbänken auf die zentrale Anzeigetafel, kontrollieren unsere kleinen Ausdrucke und werden enttäuscht. Noch 42 andere vor uns. Selten fühlt man sich so ausgeliefert wie in den Wartehallen deutscher Behörden, wo sie Individuen zu Nummern degradieren. Bei jedem Gong ein Kontrollblick, vielleicht hat man ja durch eine Fügung ein paar Nummern übersprungen. Nein, immer noch 41 vor einem.

Ich gebe zu: Als ich zum ersten Mal ein Einwohnermeldeamt von innen sah, war da der Zauber von etwas Neuem. Ich war zum Studieren nach Jena gezogen, ein paar Hundert Kilometer von der Heimat entfernt. Ich gab brav Bescheid. Bei der Krankenversicherung, beim Finanzamt und dem Aboservice der Zeitschriften, die ich lese. Ich wollte meine Abnabelung vom adoleszenten Schüler-Ich hochoffiziell bestätigen lassen. Am Ende hatte ich sicher drei Tage in Ämtern und am Telefon verbracht, nur um meine Ankunft zu verkünden.

Neulich habe ich gelesen, dass der Durchschnittsdeutsche in seinem Leben viereinhalbmal umzieht. Wahnsinn, dachte ich. Das heißt, ich bin schon so oft umgezogen wie drei Deutsche zusammen. Dabei bin ich erst 28 Jahre alt. In den vergangenen Jahren bin ich vierzehnmal in sechs Städten von Zwischenmiete zu Zwischenmiete gehechtet. Ich habe das ständige Umziehen immer romantisiert. Die Zelte aufschlagen, eine Stadt mit maximaler Neugier entdecken und dann, kurz bevor man wirklich ankommt und die Routine ins Leben kriecht: weiterziehen. Mit einer Kiste voller Klamotten und Bücher und meinem Laptop unter dem Arm fand ich es schick, mich als digitalen Nomaden zu verstehen. Bis mir klar wurde, dass die digitale Infrastruktur in diesem Land aus einer Zeit stammt, als hier noch die analogen Nomaden umherzogen.

Als ich mal einen Sachbearbeiter fragte, ob ich fehlende Dokumente per Mail nachreichen könne, verzog er den Mund, bis er aussah wie ein Emoji aus der Nokia-3310-Ära: :-/ Er sagte, im E-Mail-Postfach des Amtes (es gibt nur eines für alle Mitarbeiter) gingen die immer verloren. Aber ich könne ihm die Unterlagen ja “fix reinfaxen”. Fix und Fax, das fand er wahnsinnig lustig. Da reichte es mir. Nie wieder, schwor ich mir, will ich ein Einwohnermelde- oder sonst ein Amt von innen sehen. Schluss mit krchkrchkrch!

Manchmal träume ich mich weg. Am liebsten nach Estland, wo die Bürger nahezu ihren ganzen Alltag online selbst verwalten. Seit 2002 existiert von jedem Esten ein Abbild seiner Identität im Internet. Dank eines Chips im Personalausweis und einer PIN können sie vor jedem Computer beweisen, dass sie wirklich sie sind. Über ein staatliches Portal können sie Steuererklärungen abgeben. Das neue Auto anmelden. Ihr Parlament wählen. Organspender werden (oder es lassen). Eine neue Wohnadresse angeben.

Manches davon gibt es auch anderswo in Europa. Im Virtuellen Amt Wien kann jeder Bürger einen Antrag auf Namensänderung stellen. In spanischen Behörden werden elektronische Unterschriften anerkannt.

Deutschland liegt bei der digitalen Verwaltung laut einer Studie der Europäischen Kommission auf Platz 21 aller 28 EU-Mitgliedstaaten. Der Föderalismus mit seinen 16 Landesverwaltungen sei schuld, klagen Politiker. Das nötige Geld fehle und vor allem eine klare Zuständigkeit. Als im vergangenen Dezember die Bundesregierung zum Digitalgipfel nach Nürnberg einlud, kamen gleich fünf Bundesminister, dazu Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, die Staatsministerin für Digitalisierung Dorothee Bär, und selbst Kanzlerin Angela Merkel war da. Die Botschaft sollte lauten: Wir haben verstanden. Wir sammeln unsere Kräfte, um das gemeinsam anzugehen!

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