/Christian Lindner: “Ich gebe keine Seele verloren”

Christian Lindner: “Ich gebe keine Seele verloren”

Christian Lindner verspätet sich. Er ist noch nebenan im Plenarsaal des Bundestags. Kurz
zuvor haben die Abgeordneten darüber abgestimmt, ob die AfD-Kandidatin Mariana Harder-Kühnel
stellvertretende Bundestagspräsidentin werden kann. Sie scheiterte. Jetzt geht es noch um
Sitze in anderen Gremien. Auf den Fluren des Jakob-Kaiser-Hauses in Berlin klingelt
pausenlos ein Alarm, der an die Abstimmungen erinnern soll. Irgendwie passend zur
aufgeregten Stimmung im Land.

Frage: Herr Lindner, wissen Sie, wie viele Muslime in der FDP sind?

Christian Lindner:
Nein, wir erheben die Religion unserer Mitglieder nicht. Ich weiß, dass säkulare Muslime
uns wählen. Es könnten aber gerne noch mehr sein.

Frage: Wer ist denn in Ihren Augen ein säkularer Muslim?

Lindner:
Damit meine ich diejenigen, die einerseits kein autoritäres Staats- und Gesellschaftsbild
pflegen und die andererseits die weltlichen Gebote des Rechtsstaats von religiöser
Verkündung trennen und Toleranz gegenüber allen Religionen leben.

Frage:
Wie viel Prozent der Muslime in Deutschland schätzen Sie als liberal ein?

Lindner:
Das weiß ich nicht. Ich befürchte aber, dass der Anteil durch die Migrationsbewegungen der
letzten drei Jahre gesunken ist. Bei den säkular Eingestellten haben viele liberale Werte,
dann übrigens nicht nur in weltanschaulicher, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Bei
sehr frommen Muslimen gibt es hingegen oft eine Nähe auch zu autoritären Vorstellungen in
der Politik.

Frage:
Haben Sie zu der Mehrheit der Muslime im Alltag überhaupt Kontakt? So wie Jens Spahn, der
sich im Fitnessstudio über die Macho-Kultur ärgert?

Lindner:
Vermutlich ähnlich viele Begegnungen wie Sie. Im Kiosk oder im Supermarkt, auf der Straße
oder in der Bahn. Hätte ich Kinder, dann in Kita und Schule sicher mehr. Ob Herr Spahn so
oft im Fitnessstudio Kontakt zu Muslimen hat, das kann ich nicht beurteilen.

Frage:
Jens Spahn fühlt sich da manchmal beeinträchtigt. Sie auch?

Lindner:
Nein. Ich fühle mich nicht bedrängt, wenn im Supermarkt neben mir jemand mit Kopftuch steht
– egal, ob das eine sorbische Oma ist oder eine Muslima. Wenn mich was ärgert, dann sind es
in Berlin auf dem Ku’damm junge Männer mit Migrationshintergrund, die im 500er Mercedes zu
schnell und mit viel zu lautem Auspuff unterwegs sind. Aber da spielt weniger die Religion
eine Rolle als das Testosteron.

Frage:
Noch einmal zurück zu den liberalen Muslimen: Wollen Sie stärker auf diese Gruppe
zugehen?

Lindner:
Ich spreche mich dafür aus, dass wir innerhalb der deutschen Gesellschaft den liberalen
Vertretern des Islam den Rücken stärken und Gehör schenken. Sie sind leider nicht so gut
organisiert. Es sind eher Einzelpersonen, die innerhalb der islamischen Community für neues
Denken argumentieren.

Frage:
Redet der Staat aus Ihrer Sicht bislang mit den Falschen?

Lindner:
Der Staat muss mit allen reden. Wenn öfter säkulare und liberale Muslime eine Rolle bei
Konferenzen spielen, finde ich das gut. Aber hier geht es um einen Entwicklungsprozess
innerhalb der islamischen Community. Da hat der Staat nichts zu suchen. Die Debatte müssen
die Muslime selbst führen. Ich vergleiche das mit den Debatten über die katholische Kirche
und ihre Dogmen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Damals war es nicht die Regierung
Adenauers, die gesagt hat: Hier in der katholischen Kirche gibt’s Erneuerungsbedarf. Das kam
aus der Mitte der Gesellschaft. Und am Ende war die Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen
Konzil eine andere. Schon klar: Im Islam ist ein solches Aggiornamento schwerer zu
erreichen, weil es keine einheitliche Lehrmeinung gibt.

Frage:
Wie wollen Sie den säkularen Islam dann überhaupt stärken?

Lindner:
Das kann nur jeder Einzelne. Die Politik kann Muslime nicht fragen: “Wie denkst du im
Innersten eigentlich über Andersgläubige?” Das Forum internum ist dem Staat des
Grundgesetzes nicht zugänglich. Als Bürger aber darf ich meinen Obsthändler fragen. Ich darf
den Verkäufer hinter der Theke an meinem Kiosk fragen. Und ich darf meinen Nachbarn oder
meinen Taxifahrer fragen, ob er mich als Ungläubigen sieht, der verachtet wird. Solche
Diskussionen sind notwendig, ich wundere mich, wie verhalten viele sind. Gerade die
politische Linke und die Frauenbewegung, die so vehement gegen die katholische Kirche
diskutiert haben, sind bei konservativen Muslimen debattenscheu. Man hört fast nur
konservative Politiker, die sich regelrecht am Islam abarbeiten und das Christentum zur
Staatsreligion ausrufen wollen. Es ist erwartbar, dass die sagen: Der Islam gehört nicht zu
Deutschland.

Frage: Und? Gehört er zu Deutschland?

Hits: 29