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Traumjob: Opfer der Leidenschaft

Wenn du zusammenbrichst, bist du ein besserer Mensch. Das war das Erste,
was ich in meinem Beruf lernte. Ich ging auf eine Journalistenschule. Eines Mittags saßen wir
mit einem Ausbilder zusammen. Er sprach über den legendären Ruf der Schule und wie dieser von
den Absolventen geprägt wurde. Als Beispiel wählte er Moritz. Wir kannten Moritz, der in
Wahrheit anders heißt, flüchtig. Er hatte den Jahrgang über uns besucht. Danach war er zum
Fernsehen gegangen. Sein Traumjob. Moritz arbeitete Tag und Nacht, ignorierte seine
Erschöpfung – und kollabierte. Der Ausbilder sagte zu uns: “Das ist echte Leidenschaft.” Er
meinte das nicht ironisch. Er war stolz auf Moritz’ Kollaps.

“Am Ende der Ausbildung waren auch wir bereit, für unsere Leidenschaft Opfer zu bringen.”

Merle Schmalenbach, Journalistin

Natürlich fanden wir das falsch. Doch wir hatten viele heldenhafte Dozenten in den drei Semestern unserer Ausbildung: Sie arbeiteten als Hauptstadtjournalisten, schrieben nebenbei Romane und sahen ihre Partner nie. Sie belasteten zwei Kreditkarten gleichzeitig, drehten mit dem Geld Dokus und taten nichts für die Altersvorsorge. Sie vernachlässigten alles außer ihrer Arbeit und rechtfertigten das mit ihrer Leidenschaft. Die Vorbilder machten auf uns Eindruck. Am Ende der Ausbildung waren auch wir bereit, für unsere Leidenschaft Opfer zu bringen. Bereit, für zu wenig Geld zu arbeiten, unter unsicheren Bedingungen, immer kurz vor dem Burn-out. Aber voll motiviert.

Nicht nur uns Journalisten ging es so. Wann immer ich mit Bekannten redete, hörte ich ähnliche Geschichten. Alle waren enthusiastisch, alle arbeiteten Tag und Nacht – ob Wissenschaftler, Unternehmensberater oder Architekten.

Leidenschaft ist zur Währung geworden, mit der wir unseren Wert bemessen.

An und für sich ist Leidenschaft etwas Gutes. Sie treibt uns dazu, auf den Mond zu fliegen, WM-Titel zu gewinnen, Kinder großzuziehen. Leidenschaft bringt die Menschheit voran. Doch es gibt auch eine Leidenschaft, die zerstört. Die einen nicht zur Ruhe kommen lässt. Die kein Maß hat und dazu dient, Menschen auszunutzen.

2005 hielt der damalige Apple-Chef Steve Jobs eine Rede vor Stanford-Absolventen: “Der einzige Weg, großartige Arbeit zu leisten, besteht darin, zu lieben, was man tut”, sagte er. “Wenn ihr das noch nicht gefunden habt, sucht weiter!” Die Rede wurde auf YouTube 30 Millionen Mal geklickt.

Junge Menschen können überall hingehen, um die Arbeit zu finden, die sie lieben

Steve Jobs’ Worte trafen auf eine Generation, die verunsichert ist: Junge Menschen im Westen sind suchend, mobil, fragil. Sie sind aufgewachsen mit tausend Möglichkeiten. Niemand muss mehr den Erbhof seiner Eltern bewirtschaften, zum Glück. Es gibt keinen Dreißigjährigen Krieg mehr. Keine Leibeigenschaft. Keinen Hunger. Toast kostet 69 Cent. Das Überleben ist leicht. Junge Menschen können überall hingehen, um die Arbeit zu finden, die sie lieben. Und tun sich deshalb schwer mit dem Ankommen.

Frühere Generationen glaubten nicht an Leidenschaft im Job. Sie glaubten an Gott. War der Tag überstanden, das Korn geerntet, spürten sie Sinn. Denn ihr Leben war gottgefällig. Deshalb wartete nach dem Tod die Erlösung.

Doch dann wurde Gott ersetzt. Durch die Aufklärung, den technischen Fortschritt, die
Emanzipation vom Feudalismus. Durch Sicherheit. Studien zeigen: Je höher das Bildungsniveau,
der Wohlstand und die Lebenserwartung sind, desto weniger religiös sind die Menschen. In einem
armen Land wie Afghanistan beten 96 Prozent der Bürger täglich. Im reichen Wohlfahrtsstaat
Deutschland sind es nur neun Prozent. Trotzdem brauchen Menschen Sinn (siehe
ZEIT
Nr.
1/19
). Das ist wissenschaftlich erwiesen. Forscher der Northwestern University fanden im Jahr
2017 heraus, dass Menschen sogar schlechter schlafen, wenn sie keinen Sinn spüren.

Je mehr Sinn, desto besser

Und so verlagert der moderne Mensch seinen Lebenssinn in die Arbeitswelt und unterscheidet zwischen stumpfer und erfüllender Arbeit. Dabei gilt: Je mehr Sinn, desto besser. Das legen zumindest die Ergebnisse einer repräsentativen Studie im Auftrag des Karrierenetzwerks Xing aus dem Jahr 2017 nahe. Würden Ausbildung, Alter oder Einkommen keine Rolle spielen, wären Frauen demnach am liebsten Tierpflegerin, Psychologin oder Schriftstellerin. Männer wären vorzugsweise Profisportler, Forscher, Pilot oder Schriftsteller. Fast die Hälfte der Befragten würde sich heute für einen anderen Job entscheiden.

Die Angst davor, keine sinnvolle Arbeit zu finden, zerstückelt Biografien.
Denn die Suche nach der Herzensarbeit gestaltet sich schwierig. Jeder Dritte bricht heute sein
Bachelorstudium ab. Die Leidenschaftsjunkies gehen auf private Schauspielschulen. Sie
versuchen es als Blogger, Maler und Modedesigner. Sie verachten die Bürojobs ihrer Eltern –
und zehren doch von deren Überweisungen. Sie blenden ihre Umstände aus. Sie träumen vom
Durchbruch und ignorieren ihre realen Fähigkeiten. “Die menschliche Selbsterkenntnis bezüglich
der eigenen Begabungen ist begrenzt”, schreibt der Psychologe Aljoscha Neubauer in seinem Buch
Mach, was du kannst.
Wer das nicht glaubt, der komme nach Berlin. Es ist die Stadt
der dilettierenden, leidenschaftlichen Menschen. Es ist die Stadt, in der die Erwachsenen
nicht erwachsen sein können.

Die unterbezahlte Leidenschaft wird zum Treibstoff eines ungebremsten Kapitalismus

Jahrhundertelang war dieses Träumen das Privileg von Künstlern. Doch seit einigen Jahren findet es sich überall in der Gesellschaft: bei Universitätsdozenten, die für den Stundenlohn eines Kellners arbeiten. Bei freien Journalisten, deren Einkommen unter Hartz IV liegt. Bei Nachwuchspiloten, die Airlines Geld dafür bezahlen, dass sie fliegen dürfen. Diese Menschen sind die Avantgarde der Leidenschaftlichen. Sie nehmen in Kauf, ihre Arbeit zu entwerten und damit auch sich selbst. So wird ihre unterbezahlte Leidenschaft zum Treibstoff eines ungebremsten Kapitalismus. Er vereinnahmt sie, beutet sie aus und muss sich dafür nicht einmal mehr rechtfertigen. Mit allen Begleiterscheinungen.

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