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Atemtechnik: Jenseits des Zwerchfells

Das
Durchatmen hat Hochkonjunktur. Zumindest im Imperativ. Und als
Versprechen. Unter dem Hashtag #mindfulness, der für viele längst
zum ambitionierten Lebensstil gehört wie die Zweieuro-Biotomate,
werden Atemtechniken als Lifehack gefeiert. Momentan scheint die halbe
Welt besser atmen zu wollen. Neben
Breathe gibt es die Atem-Apps Breathe Deep, Breathe Pro, Pure
Breathe, Breathing Zone, Breathe2Relax und zig mehr. Neue Hippies
hyperventilieren zur Bewusstseinserweiterung. Sportler und
selbsternannte Sexperts teilen Atemtipps, mit denen sie ihre
Performance verbessern. Und spätestens
seit Hilary Clinton im Buch über ihre Wahlniederlage erklärt hat,
welche Atemtechnik ihr aus dem Tief half, weiß halb Amerika, was
Nasenwechselatmung ist (durch ein Nasenloch einatmen, Luft anhalten,
durchs andere ausatmen).

Meine Freundin Kaity hat ihre
Psychotherapiestunden gerade gegen Virtual Breathwork Sessions
ersetzt. Zweimal im Monat verabredet sie sich mit Samantha Moody, um “strategisch zu atmen”. Moody hat sich auf die
atemtechnische Behandlung von Depressionen und Kindheitstraumata
spezialisiert, eine Stunde kostet 100 Dollar. Sie lebt in New York, wo bekanntlich vieles größer ist als bei uns – auch die
Breathwork-Bewegung.

Flacher
Atem ist ein Zeichen allgemeiner Anspannung, Flüchtigkeit und
Unsicherheit – und damit ein Zeichen unserer Zeit. Die Psychologin
Belisa Vranich schreibt in ihrem Buch Breathe, dass etwa 95% aller
Erwachsenen heute ungesund atmen. Besonders gefährdet, ins
chronische “Vertikalatmen” zu verfallen, seien Büromenschen: Wer
ständig auf Bildschirme starre, atme den ganzen Tag wie ein Raubtier
auf der Pirsch, in kleinen, unauffälligen Zügen. Wenn wir uns nicht
gerade durch Yogasessions seufzen, ist unser Atem
mitunter so flach, dass es zu Konzentrationsschwierigkeiten,
Merkschwäche und Kopfschmerzen kommt. Der Körper ist darauf
ausgelegt, erst dann tief Luft zu holen, wenn sich die Aufregung
legt. 

“Unser
Atem ist wie ein Barometer emotionaler Befindlichkeiten”, sagt
Samantha Moody, die mit meiner Freundin
gegen ihre psychischen Probleme anatmet. Nicht nur Hetze und Stress,
auch Angst oder Wut, beschleunigen den Atem. Wer wurde nicht mal zum
Durchatmen verdonnert, als er frustschnaubend aus der Schule kam?
Beruhigt sich der Atem, verlangsamt das die Herzfrequenz, man wird
generell ruhiger. So lässt sich der Körper austricksen.

Samantha Moody hat sich als gelernte Doula – sie begleitet werdende Mütter emotional – zunächst mit Atemtechniken zur
Geburtsvorbereitung beschäftigt. Weil sie
selbst eine traumatische Kindheit hatte, ist der psychologische Aspekt
dann zunehmend ins Zentrum ihrer Arbeit gerückt. Sie setzt auf atembasierte Methoden, “weil sie so intuitiv sind”.
Viele der Menschen, mit denen Moody atmet, hätten die klassische
Psychotherapie als kontraproduktiv empfunden. Auch Kaity sagt, sie
habe sich nach ihren Therapiestunden regelmäßig “wie wundgeredet”
gefühlt.

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