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Südchinesisches Meer: China in der Nationalismusfalle

Gastautor Sascha Zhivkov ist Sinologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Greater China Studies der Uni Tübingen. Er forscht zur sino-taiwanischen Wirtschaftsintegration und der Bedeutung von Erinnerungskultur auf Gesellschaften und internationale Beziehungen in Ost- und Südostasien.

Unfreundliche Begegnungen von Kriegsschiffen sind kein gutes Zeichen. Im Südchinesischen Meer geschieht so etwas zunehmend öfter, zuletzt am 30. September, als ein US-amerikanisches und ein chinesisches Kriegsschiff beinahe kollidierten. Das Ereignis nährt Sorgen um eine militärische Eskalation in der Region, denn die Beziehungen der USA mit China sind ohnehin angespannt. Es herrscht ein heftiger Handelsstreit zwischen den Staaten, zudem haben das Pentagon und der Nationale Sicherheitsrat der USA China unlängst zu einem strategischen Problem erklärt.

Das Südchinesische Meer zählt heute zu den konfliktträchtigsten Regionen der Welt. Hier  werden verschiedene Territorien von gleich mehreren Anrainerstaaten beansprucht. Taiwan, die Philippinen, Malaysia, Vietnam und Brunei reklamieren mit der Volksrepublik China teils konkurrierende Territorien in dem an Bodenschätzen reichen Gebiet, durch das für den Welthandel immens wichtige Schifffahrtsrouten führen.

China reklamiert fast das gesamte Areal für sich – und schafft dafür seit einigen Jahren Fakten, indem es Atolle und Felsen zu militärischen Stützpunkten ausbaut. Deshalb führt die seit Jahrzehnten im Westpazifik stationierte US-Kriegsmarine dort vermehrt im internationalen Seerecht verankerte Freedom-of-Navigation-Fahrten durch. Zwar bestehen die chinesischen Forderungen auf das Meer, die der sogenannten Neun-Strich-Linie folgen, bereits seit 1953. Doch haben Intensität, Schärfe und Häufigkeit der Konflikte im Südchinesischen Meer mit China zuletzt stark zugenommen – und das hat nicht nur mit geopolitischen Interessen zu tun.

Mythen als politisches Kapital

Ein wichtiger und unterschätzter Grund dafür liegt in der Legitimationskrise der herrschenden Kommunistischen Partei (KP) nach dem Tian’anmen-Massaker von 1989, welches das Regime vor eine folgenschwere Frage stellte: Wenn Ideologie und Wirtschaftswachstum nicht ausreichen, um Systemkrisen zu verhindern, wie könnte man die Zustimmung der Massen in Zukunft sicherstellen? Die KP-Propaganda entdeckte darauf die Macht der Geschichtspolitik für sich, die heute bis ins Südchinesische Meer reicht.

Alle Staaten suchen in ihrer Vergangenheit die Selbstvergewisserung für die Rolle des Landes in der Welt. Geschichte wird dabei nie einfach als eine Abfolge von Ereignissen rekonstruiert, sondern selektiv auf die Gegenwart bezogen. Dies nennt man in der geschichtspolitischen Forschung Mythenbildung. Es geht hier weniger darum, was tatsächlich geschehen ist. Wichtiger ist, warum welche Geschichtsnarrative wirkmächtig geworden sind, wie sie Gesellschaften prägen.

Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer

Umstrittene Meereszonen

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Im autokratischen China hat die KP systembedingt sehr weitreichende Möglichkeiten, die Vergangenheit umzudeuten und Mythen für bestimmte Interessen als politisches Kapital einzusetzen. Die Partei dominiert die Geschichtsschreibung, sie bestimmt, was in den Schulen gelehrt und wie Geschichte in den Medien erzählt wird und beeinflusst so auch die öffentliche Meinungsbildung.

Nach 1945 hatte man in der offiziellen Propaganda noch in einem Siegernarrativ die kommunistische Überlegenheit gegen ausländische Feinde betont. Doch ab den Neunzigern begann man ein Opfernarrativ zu nähren. Das Jahrhundert der Schande (guochi) zwischen 1838 und 1949 dient als mahnendes Beispiel für die Aufteilung Chinas unter ausländischen imperialen Mächten des Westens und Japans. Dies dürfe nie wieder geschehen, niemand anderes als die KP habe seinerzeit diesen Zustand beendet und garantiere dies heute auch für die Zukunft. Die eigene Souveränität zu verteidigen, ist stärker denn je oberste außenpolitische Maxime.

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