/Rechtsextremismus: “Die Grenzen zwischen Amok und Terror können verwischen”

Rechtsextremismus: “Die Grenzen zwischen Amok und Terror können verwischen”

In Bottrop und Essen ist ein Mann in der Silvesternacht mit dem Auto in Menschengruppen gerast und hat mindestens acht Personen verletzt. Die Opfer kamen alle aus Syrien und Afghanistan. Laut NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte der Mann “die klare Absicht, Ausländer
zu töten”. Die Polizei spricht von einem “gezielten Anschlag”. Gleichzeitig heißt es immer wieder, er sei psychisch krank gewesen, es könne ein Amoklauf gewesen sein. Der Soziologe Matthias Quent kritisiert den Verweis.

ZEIT ONLINE: Herr Quent, in Bottrop ist ein Mann mit dem Auto in zwei syrische und eine afghanische Familie gerast und hat sie zum Teil schwer verletzt; Polizei und Behörden gehen von einem gezielten Anschlag aus – mit dem “klaren Ziel, Ausländer zu töten”. Sie sprechen von Rechtsterror. Warum?

Matthias Quent: Es ist noch unklar, ob und wie ausführlich die Tat geplant wurde. Vielleicht handelt es sich um einen Spontanterrorismus, der auch im islamistischen Milieu seit Jahren propagiert wird: mehr oder weniger spontane Gewalttaten mit alltäglichen Mitteln, die keine große logistische Vorbereitung benötigen. Die Tat hat eine spezifische politische und gesellschaftliche Wirkung. Offenbar hat der Täter durch eine schockierende Botschaftstat gegen nicht weiße Menschen, gegen People of Color, Angst und Schrecken hervorrufen wollen. Die rassistisch motivierte Opferauswahl steigert Spannungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Sie betont und verstärkt ethnische Unterschiede und inszeniert sie als Grund für Gewalt. Deswegen spreche ich von Vorurteils- oder Hassverbrechen und auch von Rechtsterrorismus.

Bottrop – »Es gab die klare Absicht, Ausländer zu töten«
Ein Mann ist in Bottrop und Essen gezielt in Menschengruppen gefahren. Laut dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen hatte er rassistische Motive.

© Foto: © Marcel Kusc/dpa

ZEIT ONLINE: Wenn Täter scheinbar wahllos Menschenmengen angreifen, heißt es danach entweder, es sei ein Amoklauf gewesen oder ein Terroranschlag. Sie kritisieren diese Unterscheidung.

Matthias Quent ist Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft der Amadeu Antonio Stiftung. Er forscht zu Rassismus, Radikalisierung und Rechtsextremismus.

Matthias Quent ist Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft der Amadeu Antonio Stiftung. Er forscht zu Rassismus, Radikalisierung und Rechtsextremismus.
© Philip Eichler/Campact

Quent: Die strikte Unterscheidung zwischen Amok und Terrorismus macht in einigen Fällen einen Scheinwiderspruch auf. Die Grenzen zwischen Amok und Terror können in der Realität verwischen. Der Begriff Amok entleert Anschläge um ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung. Was die Tat in Bottrop wie auch den Münchner OEZ-Anschlag 2016 von reinen Amoktaten unterscheidet, ist die Opferauswahl und ihre politische Botschaft.

ZEIT ONLINE: Wann ergibt die Kategorie Amok für Sie Sinn?

Quent: Ich habe mich nach dem OEZ-Attentat viel mit der Amokforschung beschäftigt und sie liefert wichtige Befunde über die Radikalisierung von Tätern. Es sind praktisch nur Männer. Der Fokus der Forschung liegt aber meist auf der individuellen Ebene. Für die Ursachenforschung ist das sehr wichtig, aber Gewalttaten gegen ethnische Minderheiten darauf zu reduzieren, das würde die Besonderheit der rassistischen Opferauswahl ignorieren.

ZEIT ONLINE: Warum ist die Opferperspektive für Sie so entscheidend?

Quent: Die Opferauswahl hat etwas mit gesellschaftlichen Debatten, Prägungen und Zuschreibungen zu tun: Welche Gruppen gelten als Bedrohung oder legitime Ziele? Wodurch können sinnlose Gewalttaten mit einem angeblich höheren Zweck aufgeladen werden? Die reine Täterperspektive ist nicht ausreichend, um solche Taten zu verstehen.

ZEIT ONLINE: Und ab wann ist es für Sie sinnvoll, von einer Radikalisierung zu sprechen? Der mutmaßliche Täter in Bottrop soll nach bisherigen Erkenntnissen keine Kontakte in die rechtsextreme Szene gehabt haben.

Quent: Ich vertrete einen zunächst wertfreien Radikalisierungsbegriff. Er meint die Steigerung von Einstellungen und Handlungsbereitschaft für eine Idee oder Sache, die schon an der Radix angelegt ist, an der Wurzel. Radikalisierung kann dann sowohl negativ als auch positiv sein, und sie kann sowohl Individuen als auch Gruppen und ganze Gesellschaften betreffen. Im Zusammenhang mit Gewalt, wie im aktuellen Fall, wird Radikalisierung häufig als die Steigerung der Unterstützung von Gewalt begriffen. In jedem Fall ist Radikalisierung ein Prozess, der von verschiedenen individuellen und sozialen Faktoren beeinflusst wird.

ZEIT ONLINE: Plakativ ausgedrückt ist es also zunächst egal, wie lange und wie tief ein Täter in einer Ideologie steckt?

Quent: Für die Aufklärung von Ursachen und die Entwicklung von Präventionsansätzen ist es natürlich nicht egal, für die begriffliche Einordnung schon. Den Opfern und denjenigen, die nach rassistischen Anschlägen Angst haben, dürfte es tatsächlich ziemlich egal sein, wie stark ein Täter ideologisiert ist. Eine rassistische Tat ist auch dann rassistisch, wenn der Täter Mein Kampf nicht gelesen hat und kein Parteibuch einer rechtsradikalen Partei besitzt.

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