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Migration: Die Unsichtbare

Mehr als zwei Jahrzehnte, bevor ein Treck von Migranten in Mittelamerika aufbricht, um zu Fuß in die USA zu gelangen, fasst Mirabel Anaya ihren eigenen Plan. In ihrer Heimatstadt Trujillo in Honduras will die damals 36-Jährige nicht bleiben. Zu hoch ist die Kriminalität, zu niedrig die Chance, ihrem 15-jährigen Sohn ein gutes Leben bieten zu können, so erzählt sie es später. 

Also geht Anaya nicht zu Fuß in Richtung Norden, sie will nicht in die USA. Der Weg über den Atlantik ist billiger und ungefährlicher. Sie lässt ihren Sohn bei ihrer Mutter, steigt in ein Flugzeug nach Hamburg und beginnt ein Leben in der Illegalität. Und als international tätige Kleinunternehmerin. 

Heute ist Anaya 58 Jahre alt, sie spricht mit einer warmen und leisen Stimme. “Beruf? Keiner. Hausfrau, sonst nichts”, sagt sie. Dabei stimmt das nicht. Seit 22 Jahren arbeitet sie hart, als Putzfrau in Hamburg. Ohne Arbeitserlaubnis, ohne Versicherung, für zehn Euro die Stunde. 

Das ist der eine Teil ihres Lebens. In Trujillo hält ihr inzwischen erwachsener Sohn die Stellung: Als Landwirt betreibt er eine Schweinezucht und handelt mit Ölpalmen. Anaya zeigt sein Foto auf ihrem Handy: ein junger Mann mit rundem Gesicht und Sombrero. Es folgen mehrere Fotos von ihm, der Schwiegertochter und dem dreineinhalbjährigen Enkel. “Meine Erfahrung nach den ganzen Jahren ist, dass sich einer Frau mehr Türen öffnen als einem Mann. Deswegen ist es mir lieber, dass mein Sohn in Honduras bleibt und ich ihm Geld von hier schicke”, sagt sie.

Anaya bewegt sich zwischen diesen beiden Teilen ihres Lebens, sie pendelt zwischen Hamburg und Trujillo mithilfe eines erprobten Systems, erklärt sie: Von Honduras aus kauft sie ein Ticket für einen Hin- und Rückflug innerhalb von drei Monaten. Das ist die längste legale Aufenthaltsdauer für Touristen aus Honduras ohne Visum. Auf diese Weise kommt sie mit ihrem honduranischen Reisepass nach Deutschland. Die Rückreise nimmt sie nicht wahr und bleibt. Später geht sie zur honduranischen Botschaft und meldet ihren Pass als verloren, um einen neuen ohne Einreisestempel zu beantragen. Mit dem neuen Pass kann sie zurückreisen, wann sie möchte. Alle paar Jahre fliegt sie nach Honduras.

Das Auswärtige Amt warnt vor Kriminalität in Honduras

“Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Papiere zu bekommen”, sagt sie. Sie habe ohne Probleme arbeiten können. “Obwohl das hier eine Straftat ist, oder? Wer hier ohne Papiere schwarz arbeitet, ist eine Kriminelle. Aber ich arbeite und konsumiere hier, so bleibt das Geld im Land, ein Teil zumindest. Aber sie sehen das anders.” Sie lebe im Haus “einer Freundin, die mich wie eine Familienangehörige behandelt”, sagt sie, deutlicher wird sie nicht. Mit der Anonymität will sie ihr Netzwerk schützen. Auch sie selbst trägt ein Pseudonym in Text.

“Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, wie gefährlich Honduras ist”, sagt Anaya. Das Problem seien Drogen und Armut – und die Maras, kriminelle Banden, die viele Bereiche der Gesellschaft kontrollieren. Spätestens seit vor einigen Monaten Tausende Menschen aus Honduras und anderen mittelamerikanischen Staaten in Richtung USA liefen, sind diese Zustände in Anayas Heimat international zum Thema geworden. Das Auswärtige Amt warnt Reisende: “Die Kriminalitätsrate in Honduras ist, trotz des Rückgangs der Anzahl der verübten Gewaltverbrechen, nach wie vor hoch. Sie ist, besonders unter Drogeneinfluss, von hoher Gewaltbereitschaft und einer geringen Hemmschwelle beim Gebrauch von Schusswaffen geprägt.” 

Fünf ihrer zwölf Brüder lebten in den USA, sagt Anaya, für sie sei das aber keine Option. Schlepper und Drogenkartelle machten ihr Angst. Außerdem sei es günstiger, ein Flugticket nach Deutschland zu kaufen, als die USA zu erreichen.

Ihr Sohn hat es einmal versucht. Sie erinnere sich noch, wie sie, schon in Hamburg, staubsaugte und ihr Sohn anrief, um sie um 6.000 Dollar zu bitten. Er war von Schleppern entführt worden. “Ich hatte das Geld nicht, also musste ich es mir von meinem Chef leihen. Diese Leute machen keine Scherze.” Anaya zahlte und die Kidnapper ließen ihren Sohn frei – direkt in die Arme der US-Behörden. Er wurde aufgegriffen und aus den USA ausgewiesen.

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