/Darts-WM: Im Tollhaus des Sports

Darts-WM: Im Tollhaus des Sports

Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Vorstellungen der Menschen zum Paradies über Kulturkreise und Jahrtausende hinweg doch gleichen. Ob es nun Elysium, Walhall, Dschanna oder Himmelreich heißt, es liegt entrückt, fernab oder hoch über allem profanen Gewese und allzu irdischen Sorgen. Bevölkert wird es von den fantastischsten Gestalten und es gibt Alkohol oder Alkoholimitat in rauen Mengen.

Wie bei der Darts-WM. Weit im Norden Haringeys thront der Alexandra Palace, von seinen Anhängern zwecks phonetischer Leichtigkeit liebevoll “Ally Pally” genannt, und blickt hernieder auf das säkulare Inner London. Jährlich verwandelt sich der viktorianische Bau in ein Tollhaus und lässt via TV alle Welt daran teilhaben. Vor allem während des Finales. Der entscheidende Unterschied zur Walhall oder dem Elysium ist also: Den Eintritt kann man sich kaufen.

Das Land der Einhörner

Vor und im Ally Pally findet sich alles, was den Höhepunkt des Darts-Jahres ausmacht. Bärtige Pikachus und rosa Einhörner tummeln sich im Gedränge, die Mona Lisa (inklusive Bilderrahmen) drängt sich die Treppe zu den Toiletten hoch und Donald Trump bestellt sich einen gewaltigen Pitcher Lagerbier. Die Darts-WM ist Karneval und Oktoberfest, gepaart mit guter, englischer Pubkultur – sowas gibt es bei keinem anderen Sportevent. 

Schon vor dem Match tönt die Dartshymne Please don’t take me home durch die riesige Entrance Hall. An sich ist sie zum Ende einer Session eine Aufforderung an die Spieler, dass sie doch bitte piano machen mögen: Schließlich ist es ihr Spieltempo, das bestimmt, wie lange der Zapfhahn noch geöffnet ist, ehe eine gänzlich spaßlose Security den Wahnsinn von Stunden binnen Minuten bestimmt wie rapide nach draußen in die nüchterne Winterkälte befördert.

Tatsächlich, Profis

Doch alle wissen: Einer der Finalisten ist unerbittlich. Michael “Mighty Mike” van Gerwen dominiert die Szene. Sätze, die in anderen Partien auch mal eine Viertelstunde lang dauern, fallen bei ihm unter fünf Minuten. Der Horror für all die
anwesenden Einhörner und rosa Elefanten. Viele im Ally Pally fürchten einen kurzen Abend.

Der Run auf die Bierpitcher hat deswegen etwas vom amerikanischen Black Friday. Daran sind die Organisatoren nicht ganz unschuldig. In großen Lettern heißt es, der Ausschank ende um 21.15 Uhr (später ändert sich die Zeit mysteriöserweise auf 21.45 und 22.15 Uhr). Ständig herrscht das Gefühl der Verknappung. Das ist gut für den Konsum.

Alle gegen einen

Die Organisatoren verstehen es zudem, ihr Publikum zu lenken. Emotionen sind ihr Spezialgebiet, Intros und Drama können sie. Selten haben Einspielfilme mehr Gänsehaut verursacht. In der erstaunlich kleinen und gemütlichen Westhalle ist die Spannung greifbar, ehe van Gerwens Herausforderer Michael Smith unter seinem Walk-on-Song Shut up + Dance einzieht. Jubel brandet auf: Nur er kann das Spiel in die Länge ziehen und den Abend retten.

Der erklärte Feind und Favorit in diesem Match ist jedoch van Gerwen. Sein Spiel grenzt an Perfektion, sein Gebaren dieser Tage allerdings an Arroganz. Als er den beliebten Doppelweltmeister Gary Anderson (“Flying Scotsman”) im Halbfinale von der Bühne fegt, verkündet MvG, er habe ihn erbarmungslos zerstört. Das hören die Fans nicht gerne. 

Doch van Gerwen schraubt die Darts so gewaltsam und präzise ins Bord, als
werfe er nicht Pfeile, sondern Thors Hammer. Schnell steht es ein, zwei,
drei, vier zu null. Die Gunst der Fans ist damit geklärt: Sobald MvG
wieder mal zu gewinnen droht, branden Buhrufe auf. Selbst das niedliche
Ferkel (“Ich bin ein Opossum!”) zwei Reihen weiter und der ansonsten
ausgeglichene Asterix verlieren ihre Contenance.

Hits: 0