/Ostdeutschland: Selten zuvor wurde über so viel Zukunft entschieden

Ostdeutschland: Selten zuvor wurde über so viel Zukunft entschieden

Es hat Jahre gegeben, in denen die Menschen im Osten trotz all der ungeheuerlichen Umwälzungen, die sie in den Neunzigern erfuhren, einfach ruhig vor sich hingelebt haben. Gemeint sind die Jahre zwischen 2005 und 2015. Im Jahr 2005 waren noch einige, wenn auch vergeblich, gegen die Einführung von Hartz IV auf die Straße gegangen. Danach kamen zwar die großen Unternehmen nicht, auf die man gehofft hatte; verließen die Jungen diesen Landstrich noch immer beharrlich; gelang es dem Großteil der Menschen immer noch nicht, sich ein Vermögen aufzubauen. Dennoch: Es kehrte ein gewisser Friede ein.

Im Nachhinein kann man das gar nicht mehr glauben. Vielleicht ist es nichts als Erschöpfung gewesen, oder eine Art Inkubationszeit. Aber das werden wir später erfahren, wenn die Historiker – oder wir selbst – es uns werden erklären können.

Mit dem Auftritt von Pegida im Winter zwischen 2014 und 2015 aber war diese Ruhe plötzlich vorbei. Natürlich war sie nie mehr als eine Scheinruhe gewesen. War uns die Gefahr in jenem Moment schon bewusst? Haben wir damals schon verstanden, dass sich fortan ein Klima würde etablieren können, das es so in der Bundesrepublik noch nie gegeben hatte?

Nach Pegida kam die AfD. Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge haben die Rechtspopulisten im Osten jüngst noch einmal zugelegt; sie liegen jetzt bei 26 Prozent, beinahe gleichauf mit der CDU (29 Prozent), deutlich vor der Linkspartei (16 Prozent) und weit vor den Grünen (9 Prozent) und der SPD (8 Prozent).

Kein demokratischer Konsens mehr

Die Dresdner Pegidisten und Pegidistinnen probten damals den Aufstand. Sie setzten ein Beispiel, und nachdem einige Monate später, im Sommer 2015, Hunderttausende Flüchtlinge ins Land kamen, kippte die Stimmung im Osten tatsächlich. Teile der Gesellschaft waren nicht mehr bereit für diese neuerliche Zeitenwende unter dem Stichwort Willkommenskultur. Sie kündigten jenen demokratischen Konsens auf, der Ost und West trotz aller Unterschiede nach der Wiedervereinigung jahrelang verband. Somit trat ein, was einer wie Wolfgang Thierse schon vor fast 20 Jahren prophezeite. Es mag zynisch klingen: Manchmal brauchen die Dinge einfach Zeit.

Im zurückliegenden Jahr 2018 haben sich diese mehr oder weniger schleichenden Entwicklungen in ihrer Macht und Präsenz deutlicher und stärker gezeigt als je zuvor. Die Stadt Chemnitz ist dafür zum übergroßen Synonym geworden, obwohl sich dort nur zeigte, was wir zuvor schon in Cottbus und anderswo gesehen hatten: Die Rechtspopulisten haben mit den Rechtsextremen funktionierende Netzwerke geschaffen; und sie sind in der Lage, wenn sie es für nötig halten, in Windeseile beängstigend viele Menschen auf die Straße zu bringen und Städte in den Ausnahmezustand zu versetzen.

Sachsen, Brandenburg, Thüringen

2019 wird deshalb das wahrscheinlich entscheidendste Jahr nach dem Mauerfall. Das freilich hätte sich kein Historiker und keine Romanautorin besser ausdenken können: Ausgerechnet im Jahr des 30-jährigen Jubiläums der ersten friedlichen Revolution auf deutschen Boden schicken die Reaktionären sich an, die Machtfrage zu stellen. 

Im Osten finden im nächsten Jahr drei Landtagswahlen statt: Im September wird in Sachsen und Brandenburg gewählt, im Oktober dann in Thüringen. In allen drei Ländern könnte die AfD stärkste Kraft werden, obwohl die Arbeitslosenzahlen im Osten vielerorts so niedrig sind wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr – oberflächlich betrachtet also nicht viel im Argen liegt, Facharbeiter sogar händeringend gesucht werden.

Offenbar hat das eine mit dem anderen aber nicht viel zu tun. Die Dinge sind eher in ihren Widersprüchen zu begreifen als in ihren Analogien; so, als würden verschiedene Zeiten, verschiedene Erfahrungsräume einander überlappen. Etwas, das lange unter der Oberfläche gegoren hat, tritt nun offen zutage.

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