/Drittes Geschlecht: Mann und Frau waren nie die Einzigen

Drittes Geschlecht: Mann und Frau waren nie die Einzigen

Ist es ein Schritt gegen das naturgegebene Prinzip von
Mann und Frau? Oder die lang ersehnte rechtliche Anerkennung von etwas, das in
der Natur selbstverständlich ist? Ein Meilenstein auf dem Weg zur Akzeptanz
geschlechtlicher Vielfalt? Oder der Anbruch eines Gender-Gaga-Zeitalters, in dem
sich jeder bald sein Geschlecht nach Lust und Laune aussuchen kann?

Selten hat ein Gerichtsurteil so gegensätzliche
Bewertungen ausgelöst wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
13. November 2017 zur Einführung eines dritten Geschlechts in deutsche
Geburtsregister. Wenn nun im Januar des neuen Jahres neben “männlich” und “weiblich” auch die Auswahl “divers” auf
Behördenformularen erscheint
, sind sich Gegner und Befürworter zumindest in
einer Sache einig: Es ist eine Zäsur, deren erhoffte und befürchtete
Wirkung nicht nur Intersexuelle in Deutschland betrifft. Von der “beklopptesten
Idee aller Zeiten”, schrieb die Berliner AfD. Eine “historische
Entscheidung”, meldete hingegen die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Unrecht
haben beide.

Aber von vorn. Vanja heißt der 26-jährige Mensch, der
sich bis zum Bundesverfassungsgericht duchklagte, um sich und den 80.000 bis
120.000 anderen Intersexuellen in Deutschland zu einer juristischen Kategorie
jenseits von Mann und Frau zu verhelfen. Mit gesellschaftlichen
Geschlechterrollen hat das auf den ersten Blick nichts zu tun – schließlich gilt Vanja mit nur einem einzelnen X-Chromosom auch biologisch
weder als männlich noch weiblich.

Im Hintergrund ging es zunächst um eine Frage, die seit 20
Jahren immer lauter diskutiert wird: Was machen wir mit den durchschnittlich
150 Babys pro Jahr, bei denen Ärzte nicht eindeutig sagen können, ob sie
männlich oder weiblich sind? Lange Zeit lautete die Antwort: Mit dem Kind
stimmt etwas nicht. Der Fachbegriff: “Störung der Geschlechtsentwicklung”. Die
Folgen: rund 1.700 Operationen jährlich sowie oft körperliche und psychische
Folgen für die Betroffenen, ein Leben lang.

Die andere Möglichkeit, der sich auch die Karlsruher
Richter anschlossen: Mit dem Kind ist alles in Ordnung, aber mit unserem
gesellschaftlichen Umgang stimmt etwas nicht. Die Folge: die Einführung eines
dritten Geschlechts für Intersexuelle. Auch viele Menschen, die Genderdebatten
generell kritisch sehen, können hier noch mitgehen, schließlich bilde die neue
Kategorie ja lediglich die biologische Wirklichkeit ab. Oder? Ganz so einfach
ist es nicht.

Denn hinter dem Kästchen “divers” verbirgt sich nicht eine biologische
Wirklichkeit, sondern Dutzende. Unter intersexuell wird alles subsumiert, was
irgendwie von den Merkmalen des männlichen oder weiblichen Geschlechts
abweicht. Es gibt Intersexuelle wie Vanja, denen ein zweites Chromosom fehlt. Es
gibt aber auch Menschen, die über ein XY-Chromosomenpaar verfügen, deren Gene
also männlich sind, die aber dennoch weibliche Geschlechtsorgane wie
Gebärmutter, Klitoris und Vagina ausbilden. Andere haben zwar weibliche
Fortpflanzungsorgane, die Hormonproduktion entspricht aber der eines Mannes.
Wieder andere haben sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsteile.

Gender und Sex lassen sich nicht problemlos trennen

Dennoch: Die Zuordnung zum neuen dritten Geschlecht
geschieht entlang rein biologischer Kriterien – anders als beispielsweise bei
Transsexuellen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale normal ausgeprägt
sind, deren persönlich wahrgenommene Geschlechtsidentität aber davon abweicht.
So lautet zumindest eine verbreitete Annahme. Aber auch die ist nicht ganz
richtig.

Denn auch Transsexualität kann körperlich bedingt sein.
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München fand
heraus, dass die Frage, ob ein Mensch später einmal transsexuell wird, davon
abhängt, wie vielen männlichen Hormonen er als Embryo im Mutterleib ausgesetzt ist. Transsexualität wäre damit selbst eine Spielart der Intersexualität.
Diagnosen von Intersexualität wiederum sind nicht frei von kulturellen
Zuschreibungen: Wo endet eine auffällig große Klitoris und wo beginnt ein
ungewöhnlich kleiner Penis?

Die Beispiele zeigen: Auch im Fall des dritten Geschlechts
lassen sich Gender und Sex nicht problemlos trennen. Das sahen möglicherweise
auch die Karlsruher Richter so. In der Urteilsbegründung hieß es, dass Vanja
auch “nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich
hat”. Offenbar haben auch im Fall der intersexuellen Vanja nicht nur
Chromosomen, sondern auch ihre Selbstwahrnehmung eine Rolle für die
Entscheidung des Gerichts gespielt.

Vielleicht hilft es Menschen, die solchen Vorstellungen des
Geschlechts kritisch gegenüberstehen, an dieser Stelle Folgendes zu erfahren: Die
Erkenntnis, dass zwei Geschlechter zu wenig sind, um die Sex- und
Gender-Vielfalt einer Gesellschaft abzubilden, ist kein neumodisches Phänomen
westlicher Gesellschaften. Es waren weder Karlsruher Richter noch
Gender-Studies-Professorinnen, die das Konzept eines dritten Geschlechts in die
Welt brachten. Im heutigen Irak schrieb 1700 v. Chr. ein unbekannter
Dichter im altbabylonischen Atraḫasis-Epos davon, wie
der sumerische Gott der Weißheit Enki seine
Fruchtbarkeitskollegin Nintu anwies, ein drittes Geschlecht zu schaffen. Es
blieb nicht bei Fiktion. Überlieferungen aus Babylonien und Assyrien zeugen
davon, dass sich schon vor fast 4000 Jahren Menschen einem dritten Geschlecht
zuordneten.

Auch heute noch ist die Welt voll von
Geschlechterkonzepten, die über männlich und weiblich hinausgehen. Khanith
werden im Oman Menschen genannt, die mit männlichen Geschlechtsmerkmalen, aber
zeugungsunfähig auf die Welt kommen. Ihre gesellschaftliche Rolle ist teils
zwischen Frauen und Männern angelegt, teils ähnelt ihr Rollenverständnis dem
einer Frau. Hijras werden Vertreter eines dritten Geschlechts in Indien,
Bangladesch und Pakistan genannt, die sich größtenteils aus Kastraten, seltener aus Intersexuellen
zusammensetzen, in eigenen Gemeinschaften leben und die Göttin Bahuchara Mata anbeten.

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