/“Aufräumen mit Marie Kondo”: Die Seele des Materialisten wohnt in seinen Dingen

“Aufräumen mit Marie Kondo”: Die Seele des Materialisten wohnt in seinen Dingen

Ich räume japanisch auf. Nach den
für Außenstehende befremdlichen Grundregeln sollen etwa Socken nicht nur genau dreimal
gerollt und dann in eine Schublade gestellt
werden. Man soll sich auch bei ihnen für ihren harten Arbeitstag bedanken, wenn man sie getragen hat. Schon seit drei Jahren organisiere ich meinen Haushalt nach derlei japanischen Vorschriften und bin sehr zufrieden damit. (Ich habe mich aber
noch nie laut bei meinen Socken bedankt und ihnen höchstens ein- oder zweimal aufmunternd
zugenickt.)

Schuld an meiner Schrulle ist Marie Kondo, die Kaiserin japanischer Aufräumliteratur. Als ich auf sie stieß, war
sie bereits mehr als ein Jahr auf der New-York-Times-Bestsellerliste: eine
Aufräumberaterin, die nicht nur den schon sehr aufgeräumten Tokioter Haushalten
half, endlich einmal wirklich aufgeräumt
zu sein, sondern mit ihren fast kindlich schlichten Ordnungsregeln plötzlich
auch in kalifornischen Digitalkonzernen gefragt war. Ich schaute flüchtig in ihr
Buch. Das war an Weihnachten vor drei Jahren. Die gesamte stille Zeit
verbrachte ich dann damit, meine Wohnung neu zu ordnen. An Neujahr 2016 hatte
ich somit, wie ich heute weiß, auch mein Leben neu sortiert. Nun, an Neujahr
2019, widmet Netflix Marie Kondo eine ganze Serie.
Vordergründig geht es wieder ums Sockenrollen. Dahinter aber steht die Frage,
wie wir eigentlich leben wollen.

Mit ihrer sehr schlichten Antwort
darauf hat Marie Kondo mittlerweile zehn Millionen Bücher verkauft. Sie ist von
Japan nach Kalifornien umgesiedelt und hat dort eine Art Aufräum-Imperium
gegründet. Für um die 2.000 Dollar kann man sich nun zum zertifizierten
Aufräumberater ausbilden lassen, weltweit gibt es derzeit über 200 offizielle
Kondo-Wiedergängerinnen (darunter zwei Männer). In Deutschland sind es vier, in
Köln, Frankfurt, Hamburg und Berlin.

Nun also die Netflix-Serie. Das
Konzept der acht Folgen “Aufräumen mit
Marie Kondo” ist immer gleich: Kondo-sensei, eine auch für japanische Verhältnisse eher zierliche Frau mit
stets blendend weißem Oberteil und wechselndem Rock, hält in einem schwarzen
Van vor einem stets beeindruckenden kalifornischen Haus und klopft. (Immer
dabei: eine Übersetzerin, Kondo spricht kaum Englisch.) Die Bewohner des jeweiligen
Hauses öffnen die Tür. Da sind etwa Rachel und Kevin, das sympathische junge
Paar mit den beiden kleinen, bezaubernden Kindern und dem schwelenden
Beziehungskonflikt. (“Die Wäsche kotzt mich an!”) Die Rentner Wendy
und Ron, die eine unvorstellbar große Sammlung von Weihnachts-Dekoration und
Baseball-Karten in ihrem riesigen, aber kaum noch begehbaren Haus horten. Frank
und Matt, das Autoren-Paar aus Hollywood, das seine bereits sehr aufgeräumte
Wohnung vor dem ersten Besuch von Franks Eltern noch einmal so richtig
fundamental aufräumen will.

"Aufräumen mit Marie Kondo": Die Rentner Wendy und Ron (links) horten eine unvorstellbar große Sammlung von Weihnachts-Dekoration und Baseball-Karten. Marie Kondo, die Frau im stets weißen Oberteil, soll helfen.

Die Rentner Wendy und Ron (links) horten eine unvorstellbar große Sammlung von Weihnachts-Dekoration und Baseball-Karten. Marie Kondo, die Frau im stets weißen Oberteil, soll helfen.
© Denise Crew/Netflix

Wenn Marie Kondo eintritt, gibt es
exaltiertes, kalifornisch-japanisches Hallo. Dann wird aufgeräumt. Wochenlang. Am
Ende der Folge ist das jeweilige Haus nur noch halb so voll und völlig neu
geordnet. In Wahrheit: das Leben seiner Bewohner. Und vielleicht auch: das von
uns Zuschauern. Katharsis. Abspann.

Was Dich nicht berührt, kann weg

Marie Kondo hat ein ebenso einfaches
wie universelles Prinzip formuliert, das offensichtlich vielen ermöglicht, die Dinge endlich geregelt zu kriegen: Räume ein für allemal auf, um nie wieder
aufräumen zu müssen. Überprüfe nach und nach Deine emotionale Beziehung zu
allen Dingen in Deiner Wohnung und trenne Dich Stück für Stück von jenen, die
Dir keine Freude bereiten. “Does it spark joy?”, lautet die Frage an jedes
karierte Hemd und jede Büroklammer in der englischen Übersetzung, im
Japanischen heißt das zentrale Wort tokimeku
– eher so etwas wie: Herzklopfen hervorrufen. Was Dich nicht berührt, kann
weg. Was bleibt, wird liebevoll aufgeräumt.

Kondos großspurige Arbeitshypothese
ist, dass sich diese Strenge im Haushalt bald auf alle Lebensbereiche ausdehnt.
Seien es Ernährung, Termine, Finanzen, alte Gewohnheiten oder sogar Beziehungen
zu Menschen: Was nicht glücklich macht, kann weg. Was Freude bereitet, wird aufmerksam
gepflegt. Einfacher geht es kaum, und es scheint für viele zu funktionieren,
auch für mich. Hunderte von Selbsterfahrungsberichten künden davon, wie
Menschen ihr Leben neu geordnet haben. Hashtag: #konmari. Und kondo ist jetzt ein Verb.

Wer sich für Marie Kondo und ihren methodischen
und weltanschaulichen Überbau interessiert, zu dem es mittlerweile zwar
gelehrte Abhandlungen, aber kaum ein Wort in ihren Büchern gibt, findet immerhin
Spuren davon in der Netflix-Serie. Spuren von Shintoismus etwa, der auch den
Dingen einen Geist zuspricht. Kondo selbst hat, wie einige Teenager in Japan,
Jahre in einem Shinto-Schrein gearbeitet. Die japanische Religion könnte der
Grund dafür sein, dass sie sich in jeder Folge vor dem Aufräumen in einer
kleinen Zeremonie dem Haus “vorstellt”, dass sie Bücher vor dem Sortieren durch
Klopfen “aufweckt”, und dass sich die Aufräumenden bei all jenen Dingen “bedanken”
sollen, die sie wegwerfen. (Und nach einem harten Arbeitstag bei ihren Socken.)

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