Das Jahr geht zu Ende und was haben wir 2018 für tolle Bücher gelesen, großartige Serien durchgebinget und Ohrwürmer vor uns hingesummt. Um all diesen Perlen die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihnen gebührt, haben wir in der Redaktion herumgefragt, welche Lieblinge aus diesem Jahr man sich unbedingt zu Gemüte führen sollte, wenn man sie noch nicht kennt. Und wenn wir ganz ehrlich sind, freuen wir uns auch über die Inspiration, wogegen wir Weihnachtsgeschenke eintauschen können, die uns so gar nicht gefallen.
Seyda
Der Film The Florida Project
Die kleine Moonee lebt mit ihrer arbeitslosen Mutter in Orlando, Florida. Während wenige Kilometer weiter einer der berühmtesten Freizeitparks der Welt, das Walt Disney World Resort, seine Magie über den grauen Asphalt der Straßen versprüht, erschaffen Moonee und ihre Freund*innen sich ihre eigene Zauberwelt, in der sich das billige Motel, in dem sie wohnen, in ein bonbonfarbenes Schloss namens Magic Castle verwandelt. Der Regisseur Sean Baker erzählt die Geschichte mit viel Zärtlichkeit und auf Augenhöhe mit seinen Protagonist*innen. Mindestens fünf Oscars wären bei der diesjährigen Verleihung angemessen gewesen. Stattdessen gab es gar keinen. Ein Skandal.
Das Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher
Mal etwas ganz Anderes: Ein Heft, das mir dieses Jahr erstmals in die Hände fiel und seitdem einen unersetzbaren Status erlangt hat, ist das Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher. Tägliche Pflichtlektüre für alle Schreibenden! Wie repräsentiere ich angemessen in meiner Sprache migrantisierte, rassifizierte oder geflüchtete Menschen? Hier gibt es alle Antworten.
Der Film Call me by your name
Haaaaach! Ende der Durchsage.
Mareice
Das Buch „So sterben wir“
Wir werden alle sterben. Das wissen wir und wollen es doch nicht wahrhaben. Tod, Trauer, beides sind Tabus, die wir von uns wegschieben. Roland Schulz hat in diesem Jahr ein Buch veröffentlicht, in dem es genau um diese Tabuthemen geht. Und er hat dieses Buch so geschrieben, dass wir merken: Es geht um uns. Es geht um mich, um dich und alle, die wir kennen. Wir werden sterben. „Tage vor deinem Tod, wenn noch niemand deine Sterbestunde kennt, hört dein Herz auf, Blut bis in die Spitzen deiner Finger zu pumpen.“ Es geht um die körperlichen Veränderungen beim Sterben, aber auch um die zwischenmenschlichen. So beschreibt er, wie der Umgang mit Sterbenden aussehen könnte. „Oberste Regel für deine Freunde und Angehörigen: Trost rein, Klagen raus.“ Roland Schulz schreibt über die großen Fragen des Lebens, die zwangsläufig mit dem Tod verwoben sind. Die Antworten gibt er detailliert und sanft – und genau darin liegt die Stärke dieses Buchs.
Der Podcast Hart romantisch
„Liebeskummer lohnt sich nicht, my darling…“ heißt es zu Beginn jeder Folge dieses neuen Podcasts. Dass er sich doch lohnt, zeigen Sophia Hembeck und Julius Kraft. Ihrem Herzensprojekt hört man das Herz an. Sophia und Julius sprechen über Dating, Liebe und die Irrungen und Verwirrungen zwischenmenschlicher Beziehungen – ihrer eigenen und die von Zuhörer*innen. Wenn beide unter einer Decke sitzen, um für eine bessere Aufnahmequalität zu sorgen, fühlt es sich an, als läge man mit ihnen im Bett. Kuschelig.
Das Album „Die Unendlichkeit“ von Tocotronic
Das ganze Jahr hat es mich begleitet, immer wieder. Zuerst war es ein Schwelgen in Erinnerungen, dann kamen neue Erinnerungen dazu. Einfach so, im Auto durch schwedische Wälder fahren und alle singen Electric Guitar, Wind in den Haaren, Waldluft in der Nase. Und überhaupt, die Texte von Dirk von Lowtzow. Sätze, die Tattoos sein müssten, wäre es nicht so uncool. Alles was ich immer wollte war alles. Alles was ich immer hatte warst du.
Benni
Der Film Three Billboards Outside Ebbing, Missouri
Missouri. Mildred Hayes (Frances McDormand) Tochter wurde vergewaltigt und ermordet. Die örtliche Polizei ist damit beschäftigt, Schwarze zu diskriminieren und sich am eigenen Macho-Dasein zu ergötzen. Um dem Phlegmatismus ein Ende zu setzen, lässt Mildred drei Werbetafeln an einer Landstraße aufstellen und übt so scharfe Kritik an Sheriff Bill Willoughby (Woody Harrelson). Der Film mit dem sperrigsten Titel des Jahres zeigt die Geschichte einer Powerfrau. Dazu begeistert die Charakterentwicklung von Mildreds verschrobenen Mitmenschen. Ein Fest für Auge und Ohr und ein mächtiger Tritt in die Eier!
Ein Fest für Auge und Ohr und ein mächtiger Tritt in die Eier!
Das Magazin: 032c Issue #35 — Winter 2018/19: A Museum for James Baldwin
Das Heft, in dem selbst Müllhalden wie opulente Kunstinstallationen wirken, hat dem Schriftsteller James Baldwin ein Denkmal gesetzt. In der 35. Ausgabe begibt sich das Berliner Kulturmagazin ganz dicht auf die Spuren von Baldwins Schaffen und gesellschaftlichem Wirken. Auf 25 Seiten wird die materielle Welt des Autors zelebriert, der sich zu Lebzeiten mit schwarzer und sexueller Identität befasste. Thematisch surft 032c auf der Grenze zwischen Kunst und Kommerz. Als Gegenentwürfe zu unserem digitalen Hier und Jetzt beeindrucken mich die Fotografien sowie die entschleunigte Berichterstattung.
Das Videospiel Red Dead Redemption 2
Das Moos wippt, der Waldbach flüstert, das Reh pirscht… Für mich gibt es nichts Befreienderes, als in den Thüringer Wäldern Laufen zu gehen. Ein Videospiel, das dieses Gefühl der Freiheit täuschend echt reproduziert, ist Red Dead Redemption 2. Mit einer Gruppe Gesetzesloser begibt man sich als Spieler*in auf eine Odyssee, die wie aus einem Tarantino-Western entsprungen scheint. Dabei ist jeder umgeknickte Grashalm, jedes hoppelnde Häschen in RDR2 bewusst platziert. Wo auch immer man den Blick hin schweifen lässt, es gibt da etwas, das einen davon abhält, der Hauptmission zu folgen. Wer jetzt noch daran zweifelt, wie beflügelnd es sein kann, sich im Mondschein von einem Grizzly verprügeln zu lassen, der sollte einen Blick in die Ode meines Kollegen Till Eckert werfen.
Das Album Hunter von Anna Calvi
„Don’t beat the girl out of my boy“ – Anna Calvi hatte ich bereits im Sommer 2014 in Jena live gesehen. Für mich entdeckt habe ich sie erst in diesem Jahr. Mit ihrem dritten Studioalbum “Hunter” hat die Britin ein Brett hingelegt: Treibende Riffs treffen auf halligen Gesang, der nie verkitscht oder übergriffig daherkommt. Calvis Klang erinnert entfernt an David Bowie, die Message bleibt kraftvoll feministisch!
Nici
Der Podcast Rice and Shine
Wie leben eigentlich queere Viet-Deutsche? Wie äußert sich Rassismus gegen Asiati*innen? Ist Schweinebauch wirklich leckerer als Phở? Und wie spricht man Nguyễn richtig aus? Darüber sprechen die Journalistinnen Vanessa Vu und Minh Thu Tran einmal im Monat in ihrem Podcast Rice and Shine. Mit dabei ist jeweils ein Gast aus der asiatischen Community in Deutschland, vom ehemaligen Wirtschaftsminister Philipp Rösler bis zur antifaschistischen Aktivistin My Linh.
Das Buch Marlow von Volker Kutscher
Lang erwartet, heiß ersehnt: Der siebte Band der Gereon-Rath-Reihe, die spätestens seit Babylon Berlin wohl die halbe Republik kennt. Der neue Teil spielt 1935, irgendwo zwischen Reichsparteitag in Nürnberg, SS- und Gestapo-Spitzeleien und der Erkenntnis, dass die Nazis wohl nicht so schnell wieder verschwinden werden, wie sie aufgetaucht sind. Der Fall – ein Taxiunfall, der keiner war – tritt dabei fast schon in den Hintergrund.
Die elfte Staffel von Doctor Who
Neu ist die Serie zwar nicht, im Gegenteil: Seit 1963 läuft Doctor Who mit Unterbrechungen auf der BBC. Dennoch bringt die neue Staffel eine lang ersehnte Veränderung mit sich. Zum ersten Mal spielt mit Jodie Whittaker eine Frau die namensgebende Hauptfigur des*der Doctor. Ansonsten ändert sich nicht viel. Die Doctor reist mit ihrem Raumschiff TARDIS durch Raum und Zeit und erlebt mit ihren Gefährt*innen spannende Abenteuer auf fremden Planeten in Vergangenheit und Zukunft.
Ole
Der Film Love, Simon
Love, Simon erzählt die Geschichte einer ersten schwulen Liebe – und zwar angenehm unaufgeregt. Okay, und Hauptdarsteller Nick Robinson ist ein ziemlicher Snack. Just saying.
Das Buch Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen: Remix 3 von Benjamin von Stuckrad-Barre
Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt in diesem Buch von Begegnungen, von Treffen mit mal mehr, mal weniger prominenten Persönlichkeiten. Die einzelnen Texte haben eine angenehme Leichtigkeit, bringen zum Lachen, aber manchmal auch zum Weinen.
Die Netflix-Serie Das Gelbe vom Ei
Diese Netflix-Show ist großartig, wenn man nach einem langen, anstrengenden Tag nach Hause kommt und den Kopf abschalten möchte. Das Prinzip der Sendung ist so einfach wie genial: Hobby-Bäcker*innen müssen in zwei Runden Kuchen und Torten nachbacken, die nicht nur schmecken, sondern den meist ziemlich detailverliebten Original-Kuchen gleichen sollen. Achtung, Spoiler: Das gelingt dankenswerter Weise nie. Moderatorin Nicole Byer wirbelt immer wieder kreischend durchs Bild und liefert mit ihrer witzigen, quirligen Art quasi die Kirsche auf der Torte. Ich kann danach nicht besser backen, habe auch sonst nichts dazu gelernt, aber habe auf jeden Fall Bock auf Torte!
Der Podcast Besser als Sex
Nicht ganz korrekt, aber immer unter der Gürtellinie: Im Podcast Besser als Sex sprechen die zwei Berlinerinnen Leila Lowfire und Ines Anioli über, oh Wunder, Sex, nehmen dabei kein Blatt vor den Mund und packen ihre besten, schlechtesten, weirdesten Sexgeschichten aus und beantworten Hörer*innenfragen. Dadurch, dass die beiden eher wie Freundinnen plaudern, einander ins Wort fallen, gemeinsam lachen, einander auslachen und es ihnen egal ist, dass alle Hörer*innen Details aus ihrem Sexleben erfahren, kommt der Podcast ziemlich locker und unterhaltsam daher, ohne die Moralkeule zu schwingen.
Katharina
Die Webserie DRUCK
DRUCK ist eine Serie, die ich mit 15 gerne gesehen hätte, die aber auch heute noch Spaß macht – wenn man ein Herz für Teenager-Drama und Coming of Age Storys hat. In Anlehnung an die norwegischen Serie SKAM erzählt DRUCK die Geschichte der 16-jährigen Hannah, die versucht, sich zwischen Liebe, Schule und ihrem nervigen Vater zurecht zu finden. Besonders großartig ist dabei die Beziehung zu ihren Freundinnen – fünf junge Frauen, die zwar alle sehr unterschiedlich sind, sich aber uneingeschränkt unterstützen.
Das Buch Beschreibung einer Krabbenwanderung von Karosh Taha
Einfühlsam und packend schreibt Karosh Taha in Beschreibung einer Krabbenwanderung die Geschichte der 22-jährigen Sanaa, die im Nordirak geboren wurde und im Ruhrgebiet aufwächst. Ihre Eltern haben sich entfremdet, die Mutter ist depressiv, Sanaas Schwester sucht nach Orientierung. Karosh Taha schreibt so berührend von Sanaas Versuchen, der Enge ihres familiären Umfelds zu entkommen, ohne den Bezug zu den Menschen, die sie liebt, zu verlieren, dass man das Buch einfach nicht aus der Hand legen kann.
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