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Jahresrückblick 2018: War was?

Das Jahr 2018 verneigt sich bald ein letztes Mal. Und wie
jedes Jahr um diese Zeit bekommt man es mit der Gruselangst zu tun. Denn jetzt
ist die Zeit der journalistisch fragwürdigsten Gattung, nämlich des
Jahresrückblicks. Der Jahresrückblick versammelt ja nie die bedeutenden
Ereignisse eines Jahres, sondern immer nur das, wovon man in Medien und
Öffentlichkeit meint, dass es wichtig war, einfach nur, weil es dort diskutiert
und also stattfand.

Die meisten Ereignisse, die das Leben der Menschen
beeinflussen, sind, von Krieg und Naturkatastrophen abgesehen, immer privater
Natur. Jemand wird geboren, jemand ist gestorben. Nichts verändert das Bewusstsein
eines Menschen so sehr wie das. Oder hat das vermeintliche “Comeback” eines
Friedrich Merz mit dem Alltag einer Frau Öztürk oder Herrn Schimansky wirklich
etwas zu tun? Spielt es für sie eine Rolle, dass ein Mann, der mehr als ein
Jahrzehnt in der Wirtschaft als Lobbyist sein Telefonbuch vermarktet hat, sich
in Arnsberg ins Auto setzte, dreieinhalb Stunden lang die etwa 350 Kilometer
nach Hamburg zum Parteitag der CDU fuhr, um sich dort als Vorsitzender zu
bewerben und dann die Wahl verlor? Betrifft das Frau Öztürks oder Herr
Schimanskys Glück? Das nur so als Notiz, falls Merz als “Comeback des Jahres”
in einem Rückblick auftauchen sollte.

Comeback! Ohnehin ein beliebtes Wort in der chronologischen
Rückschau. Comeback ist doch nur dann etwas Riesiges, wenn man Krebs hat, und
nach einer jahrelangen Odyssee mit Operationen und Chemotherapie auf dem
öffentlichen Parkett auftaucht. Comeback ist doch nicht, wenn sich einer beim
Geldvermehren langweilt und beschließt, wieder Politiker sein zu wollen
, um bei
Anne Will sitzen zu können.

Wo sind die bedeutenden Klavierwerke?

Wenn Rosenstolz gemeinsam eine Platte veröffentlichen, ist
das ernsthaft ein Comeback? Viele werden jetzt fragen: Rosenstolz, wer ist das?
Das sind ein Mann und eine Frau, die zusammen singen. Das letzte Mal sangen sie
2012 gemeinsam und nannten das Nicht-mehr-zusammen-Platten-machen “Trennung”.
Meistens unterbrechen Bands ihre Zusammenarbeit wegen Bandscheibenvorfall,
Burn-out, Drogensucht, Ideenarmut oder Erfolglosigkeit. Wenn sie erfolgreich
Krankengymnastik gemacht haben, einen neuen Produzenten fanden und genug
ausgeschlafen haben, “machen sie Comeback” und tauchen im Jahresrückblick auf.  

Wer aber nie auftaucht auf der Liste der bahnbrechenden
Ereignisse, Menschen oder Ideen sind bedeutende Klavierwerke, wegweisende
Romane, die besonders wütende Predigt eines Pfarrers oder eines Imam, oder die
beschwerlichste Reise eines Geflohenen, der in Europa ankam. Manche von denen
sind ja jahrelang unterwegs. Erwähnt wird immer nur, was schon einmal in Bild,
Bunte, Bams und Bums erwähnt wurde. 

Nie gibt es eine Liste mit Leuten, die man zutiefst verehrt
und die wohl auch einfach so weiterlebten, aber nie an exponierter Stelle am
Ende des Jahres auftauchen. Hat sich schon einmal jemand gefragt, warum Hermann
Gröhes fabelhafter Rundbrief
, den man bestellen kann, 2018 kein
einziges Mal versendet wurde? Warum wird ein Jahresrückblick nicht dafür
genutzt, dass man sich nach Hubertus Heils Befinden erkundigt? Immerhin hat er
ein nicht ganz unwichtiges Gesetz durchgebracht, das Arbeitnehmern ein Recht
auf Rückkehr von einer Teilzeitstelle zur Arbeit in Vollzeit garantiert. Immer
reden alle davon, dass in der SPD nichts für die Arbeitenden getan wird, und
dann geschieht doch etwas und niemand beachtet den famosen Heil.
Wo ist Stephan Lamby, wenn man sich mal wirklich für das Leben eines Comeback-Politikers
hinter den Kulissen interessiert? 

Es ist nicht so, dass nichts geschieht

Wieso fragt niemand Ralf Stegner, was in diesem Jahr
geschah, dass sich sein Gesichtsausdruck merklich änderte? Nach einem Auftritt
bei Hart aber fair im Oktober dieses Jahres sprachen Politjournalisten tagelang hinter vorgehaltener Hand nur über
eins: Was ist mit Stegner los? Seine Gesichtslandschaft galt bislang als
inoffizieller deutscher Nachfolger des UNESCO-Weltkulturerbes Gartenreich
Dessau-Wörlitz
. Und plötzlich schaut er nicht mehr nur grimmig, sondern immer
mal wieder für Bruchteile einer Sekunde nicht grimmig. Da muss doch was los
gewesen sein, das will man doch wissen. 

Noch einmal zurück zu dem, was das Leben eines Menschen wirklich
verändert. Oder, um es etwas weniger dramatisch auszudrücken: Welche Entscheidung
hat in diesem Jahr im Leben jedes Einzelnen eine Facette hinzufügt? Was könnte das
gesamtgesellschaftlich gewesen sein? Etwas, von dem alle sagen können “Das
brachte uns weiter” oder “Das machte unser aller Leben ein wenig besser”? Auf
Anhieb fällt einem nichts ein. Man müsste jetzt die Liste der
Medikamentenzulassungen nachschauen und Mediziner fragen. Oder auf den
offiziellen Bundestagsseiten nach Gesetzen kramen und kilometerlanges Papier
lesen. Welche deutsche Gesetzesänderung wird einen Wandel in Deutschland herbeiführen?  

Es war das Jahr des Gute-Kita-Gesetzes, etwas mehr Kindergeld
und dem Ende des 500-Euro-Scheins. Es ist nicht so, dass nichts
geschähe. Es gab viele Änderungen und Neuerungen. Aber eben
nichts, was das Herz berührt, so wie 2017, als es in Deutschland Homosexuellen
erstmals erlaubt gewesen ist, zu heiraten
.

Wenn man nicht immer nur vom Streben nach Menschenwürde und
Gleichheit reden würde, sondern sich darauf verständigen könnte, dass man es ernst
meint, wäre eine Vereinbarung darüber sinnvoll, jedes Jahr ein bundesweites
Gesetz einzuführen, das einzig dazu dient, mehr Menschenrechte zu gewähren.
2018 jährte sich die Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte
zum 70. Mal. Aber es wurde verpasst, den Flüchtlingen die gleichen Rechte in
Deutschland
wie den Bürgern zuzugestehen. Etwa durch die Einführung eines
einheitlichen Existenzminimums. Wieso soll ein Geflohener weniger Bedarf haben
als ein Deutscher? 100 Jahre Frauenwahlrecht und opulente Feiern führten nicht
dazu, dass das wichtigste Instrument einer Demokratie, nämlich das Wahlrecht,
allen in Deutschland lebenden Menschen gewährt wurde. Ebenfalls interessant zu
erfahren wäre eine vollständige Liste nicht nur mit den genehmigten Waffenexporten,
sondern auch eine Liste der stillen Zustimmung der Bundesregierung zur
Beteiligung von deutschen Firmen am Bau von Waffen- und Panzerfabriken im
Ausland. 

So einen Rückblick sähe man einmal gerne. So richtig schick,
mit Frack und Glitzer und Rundfunksinfonieorchester. Einen Rückblick darüber, was
alles ungleich und ungerecht blieb. Am besten noch mit einer feierlichen
Präsentation der weltweit wichtigsten Sachbücher, die einen Einblick in das
philosophische und kritische Denken über Ökonomie und Menschenrechte 2018
geben. Aber wahrscheinlich läuft es doch wieder nur darauf hinaus, dass
Palastbilder gezeigt werden, von Leuten, die mondän heirateten und mit denen man
nichts, wirklich nichts zu tun hat.

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