Die Meisterköchin runzelt die Stirn. “Was genau erwarten Sie von mir?”, fragt Sonja Frühsammer und blickt auf die blaue Kühltasche in meiner Hand. Wir stehen in der Eingangshalle des Restaurants Frühsammers in Berlin-Schmargendorf, in der Nähe des Grunewalds. Wir sind lose verabredet, doch die Frau, der die Tester des
Guide Michelin
vor vier Jahren als erster Köchin Berlins einen Stern verliehen haben, hat gerade keine Zeit. In der Küche schlagen die Bestellungen ein. “Ich dachte”, sage ich, “ich gebe Ihnen den Karpfen, und Sie bereiten ihn zu. Dann probieren wir und unterhalten uns darüber.” Ich versuche, die Sache beiläufig klingen zu lassen. Als sei es für mich eine Selbstverständlichkeit, mit frisch geschlachteten Fischen in Kühltaschen durch Deutschland zu reisen und sie Sterneköchinnen unter die Nase zu halten. Einen Moment lang schaut Frühsammer mich schweigend an. Ich überlege, was ich noch Erhellendes beitragen könnte. Mir fällt nichts ein. “Lassen Sie den Karpfen hier”, sagt sie schließlich, “und kommen Sie um 16 Uhr wieder, dann habe ich einen Teller fertig.”
Ich trete in die kalte Novemberluft hinaus, atme tief durch und frage mich, ob sie am Ende doch noch gut ausgehen könnte – die Sache mit dem Karpfen und mir. Ein Jahr nachdem sie in der Lebensmittelabteilung eines großen Kaufhauses ihren unwahrscheinlichen Anfang nahm. Ich weiß nicht mehr, was ich damals eigentlich besorgen wollte. Ich laufe samstags öfter durch die Küchenabteilung des Kaufhauses und überlege, welche gusseiserne Pfanne ich kaufen würde, wenn ich es mir leisten könnte. Am Ende lande ich jedes Mal in der Lebensmittelabteilung im Keller. Auch an jenem Samstag blieb ich dort, wie meist, kurz an der Fischtheke stehen. Schon als Kind liebte ich es, Fische anzustarren. Die glitzernden Leiber und der Gedanke an die weiten Ozeane, in denen sie mit ihren scharfen Zähnen auf die Jagd gingen, faszinierten mich.
Fisch zu essen begann ich erst mit 20. Mit 30 machte ich sogar meinen Angelschein. Ein-, zweimal im Jahr fange ich seitdem in der Eckernförder Bucht, vom Motorboot meines Onkels aus, ein paar Dorsche und Heringe. Sonst habe ich das Angeln aufgegeben. Um ehrlich zu sein: Ich habe kein Talent für Praktisches, hatte nie ein Gefühl fürs Tempo meines Köders, für den Widerstand des Wassers, durch das ich ihn zog. Ich tauge nicht dafür, mir mein Essen selbst zu fangen. Leider eignet sich meiner Meinung aber auch kaum ein Geschäft dafür, sich dort einen Fisch zu kaufen.
In den vergangenen sechs Jahren habe ich mich überall auf der Welt mit Menschen unterhalten, die davon leben, Tiere zu töten und sie zu verkaufen: mit Bisonfarmern in Kanada, Hummerfischern in Australien, Muschelzüchtern in Belgien. Ich habe gesehen, dass man Tiere so halten und töten kann, dass sie nicht leiden müssen. Ich weiß auch, dass man Tiere halten kann, ohne dabei der Umwelt zu schaden – ein Ziel, von dem wir allerdings, sollten wir es denn haben, weit entfernt sind.
Die Sache ist nur: Weil ich ständig damit konfrontiert bin, wie tierische Lebensmittel im Idealfall hergestellt werden, genügt fast keines, das ich im Supermarkt kaufen könnte, meinen Ansprüchen. Beim Fisch ist es besonders kompliziert. Ein Drittel der weltweiten Nutzfischbestände sind überfischt, viele Fangmethoden sind weder nachhaltig noch tiergerecht, jeder dritte getötete Fisch schafft es nach Angaben der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen gar nicht erst auf den Teller, sondern geht wieder über Bord oder verdirbt. Die Zucht von Fischen und Muscheln könnte helfen, den Proteinbedarf der wachsenden Menschheit zu decken, 2019 wird weltweit wohl erstmals mehr Fisch in Aquakulturen erzeugt als wild gefangen werden. Nur ist auch Zuchtfisch oft nicht nachhaltig. Etwa weil viele Arten, die in Aquakulturen gezogen werden, mit Wildfang gefüttert werden müssen. In der Konsequenz bin ich zum Flexitarier geworden, mit Tendenz ins Vegane. An jenem Novembertag vor einem Jahr im Kaufhaus lag das Problem aber anders als sonst. In der Kühltheke entdeckte ich nämlich einen Fisch, von dem ich mir sicher war, dass ich ihn guten Gewissens essen konnte. Die Sache war nur: Ich wollte es gar nicht.
Die erste Begegnung zwischen dem Karpfen und mir lag 26 Jahre zurück. Und leider hatte sie unser Verhältnis auf ein Vierteljahrhundert hin zerstört. Meine Grundschulklasse unternahm einen Ausflug in den Wald meines Heimatdorfes. Wir kamen an einem Teich vorbei. Das Wasser ist in meiner Erinnerung nicht klar oder gar leuchtend blau, sondern schrecklich trüb. Und doch konnte ich sie am Grund des Tümpels ausmachen: die dunklen, trägen Leiber, die sich kaum rührten. Ihre aufgerissenen Mäuler. Ich muss meinen Lehrer gefragt haben, was das bloß für Ungetüme seien, denn aus irgendeinem Grund weiß ich noch heute, wie er es mir erklärte. “Das sind Karpfen”, so in etwa sagte er, “die Schweine unter den Fischen. Sie leben da unten im Schlamm und fressen alles, was ihnen in die Quere kommt. Wenn du nicht aufpasst, dann fressen sie auch dich.”
Ich habe in meinem Leben Aal, Dorade, Dorsch, Hecht, Hering, Makrele, Scholle, Seeteufel, Seewolf, Zander und eine Menge anderer Fische gegessen. Einen Karpfen habe ich nie angerührt. Dabei wäre er, heute weiß ich das, die beste Wahl gewesen.
Der Karpfen ist der nachhaltigste Fisch, den man in Deutschland bekommt. Er lebt in Teichen, die seit vielen Jahrhunderten zur deutschen Kulturlandschaft gehören und die sich zu Schutzräumen der Artenvielfalt entwickelt haben. Außerdem ist der Karpfen ein “Friedfisch”. Er frisst keine anderen Fische, sondern ernährt sich hauptsächlich von Zooplankton und Bodentieren, von Wasserflöhen und Insektenlarven. Im Gegensatz zu allen anderen bekannten Arten, die in Aquakulturen gehalten werden, etwa Forelle oder Lachs, muss man ihm deshalb kein Fischmehl, das hauptsächlich aus geschreddertem wildem Fisch besteht, füttern.
Immer mal wieder hatte ich mit den Jahren von dieser einmaligen Ökobilanz des Karpfens gelesen. Vor allem fiel mir auf, dass die Nachhaltigkeits-Ampeln der Fischratgeber von WWF und Greenpeace ihm als einzigem Fisch durchgehend und ohne Einschränkungen grünes Licht gaben. Doch obwohl ich das alles im Prinzip super fand, richtig freuen konnte ich mich nicht. Jedes Mal dachte ich nämlich auch: Was bringt mir das alles, wenn ich Karpfen doch gar nicht essen mag? Kann nicht bitte schön der Kabeljau ein Öko-Wunder sein oder die Seezunge? Oder wenigstens der Barsch?
An der Fischtheke im Kaufhaus lasse ich die Verkäuferin schließlich doch eines der Karpfenfilets in eine Tüte packen. Zu Hause reibe ich es mit Zitronensaft ein, salze und pfeffere es, brate es in der Pfanne, probiere – und bin überrascht. Das Fleisch des Karpfens hat Biss, es fühlt sich nicht glibberig an, wie ich befürchtet hatte. Es hat einen dezenten, feinen Fischgeschmack, aber auch eine fleischige Note, wie Dorsch mit einem Hauch von Schwein. Begeistert erzähle ich ab sofort jedem, den ich treffe, von meinem Aha-Erlebnis. Was darauf aber fast jedes Mal folgt, damit hatte ich nicht gerechnet: In den Blicken meiner Gesprächspartner liegt ehrliches Entsetzen. “Das ist ja widerlich!”, ruft mein Onkel, ein Tierarzt und Angler. “Nie im Leben rühre ich Karpfen an”, sagt eine Freundin. Selbst meine Schwester und mein Vater, die beiden anderen Fischesser in meiner Familie, die meinem Urteil eigentlich trauen, schweigen betreten, als ich ankündige, zu Weihnachten Karpfenfilets braten zu wollen. Zum ersten Mal spüre ich die wahre Dimension der Karpfen-Tragödie.
Während der Fischkonsum der Deutschen laut Zahlen des Hamburger Fisch-Informationszentrums in den vergangenen Jahren halbwegs konstant um 14 Kilogramm pro Kopf und Jahr pendelte, ist der Anteil der Karpfen an dieser Menge immer weiter geschrumpft, von 1,5 Prozent 2002 auf 0,6 Prozent 2017. Im Durchschnitt essen wir Deutschen pro Person jährlich etwa 2,4 Kilo Lachs, 2,3 Kilo Alaska-Seelachs, 2,2 Kilo Hering, 1,4 Kilo Thunfisch – aber bloß 111 Gramm Karpfen. Was ist nur vorgefallen zwischen den Deutschen und dem Fisch, der sie ernährte, seit Karl der Große um 800 nach Christus den Ausbau der Teichwirtschaft in Mitteleuropa propagierte? Ein Jahr nach meinem Besuch im Berliner Kaufhaus setze ich mich in den Zug und fahre in den vielleicht letzten Flecken der heilen Karpfen-Welt.
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