Jedes Jahr zu den Festtagen war unsere Autorin genervt von ihrer Familie und sagte sich: Nächstes Mal fahre ich nicht mehr heim. Bis sie es tatsächlich tat.
Im vergangenen Jahr habe ich es endlich gemacht: Ich bin an Weihnachten nicht nach Hause gefahren. Ich studierte gerade in England, wohnte in einer Fünfer-WG, rief so gut wie nie bei meinen Eltern an. Also kann ich auch über Weihnachten dableiben, dachte ich. Seit ich von zu Hause ausgezogen war, hatte ich mir das vorgenommen: einmal mit Freunden feiern, Eltern Eltern und Schwester Schwester sein lassen, endlich ein Weihnachten ohne Stress.
Auch wenn es mein Instagram-Profil nicht zugibt: Wie wahrscheinlich in vielen anderen Familien auch sind die Feiertage bei uns oft eher beschwerlich als besinnlich, eher angespannt als ausgelassen. Drei Tage lang versuchen, sich nicht zu streiten. Und manchmal eben auch: Streit.
Meine Eltern, die sich nicht entscheiden können, ob der Christbaum geradesteht und der Schmuck gleichmäßig verteilt ist. Meine Oma, die zum fünfzehnten Mal fragt, ob ich wirklich kein Fleisch mehr esse und wann ich endlich zurück in meine Heimatstadt ziehe. Ich poste ein Foto von kindergebasteltem Christbaumschmuck, doch permanent droht die Gefahr, dass über Tee und Vanillekipferl wieder eine Diskussion eskaliert, weil alt und jung, rechts und links, Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen. Wahrscheinlich wäre ich auch im Laufe dieses Weihnachten irgendwann genervt in mein Kinderzimmer gegangen, Tür zu, nächstes Jahr auf keinen Fall noch mal.
Weihnachtsstern statt Christbaum, Freunde statt Familie
Doch diesmal war alles anders: Meine Familie war mehr als 1.000 Kilometer entfernt. Statt mit Papa, Mama, Schwester, Schwager, Großeltern, Tante, Onkel, Cousin und Cousine feierte ich mit meiner Mitbewohnerin. Sie hatte einen Weihnachtsstern gekauft, ich eine Lichterkette um die Blüten gewickelt, für einen Christbaum fehlten uns das Geld und der Platz. Wir luden Freunde ein, die meisten von ihnen waren geblieben, weil sie wie meine Mitbewohnerin am anderen Ende der Welt groß geworden waren und sich den Heimflug nicht leisten konnten. Seit Wochen stand fest, was wir kochen: Für Heiligabend hatte ich Risotto und Tiramisu vorgeschlagen, am ersten Weihnachtsfeiertag wollte meine Mitbewohnerin Schinkenbraten mit Kartoffelstampf machen, danach Pecan Pie. Wir suchten Filme aus, die wir sehen wollten, mindestens zwei. Wir hatten die Kontrolle, über alles.
Als ich meinen Freunden erzählte, dass ich an Weihnachten nicht nach Hause fliegen würde, schauten sie mich verwundert an: Ob ich das wirklich machen wolle? Ja, wollte ich. Ich war mir sicher, dass alles viel besser werden würde dieses Jahr, viel entspannter.
Heiligabend-Nachmittag. Ich sitze vor unserem Weihnachtsstern und scrolle durch Instagram. Kerzen, Tannenzweige, Schnee. Gedeckte Tische, lachende Gesichter, brennende Kamine. Ich weiß genau, dass meine Eltern gerade im Wohnzimmer über den Christbaum streiten. Gut, dass ich das dieses Jahr nicht erleben muss. Fünf Stunden später sitzen wir am Küchentisch. Mein Tiramisu schmeckt nicht, aber niemand beschwert sich. Danach schauen wir Vaiana, meine WG liebt Disneyfilme.
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